zum Hauptinhalt
Die offizielle Amtszeit von Wolodymyr Selenskyj als Präsident der Ukraine läuft im Mai nach fünf Jahren ab.

© ThePresidentialOfficeUkraine/SvenSimon/Presidential Office of Ukraine

Die Ukraine hat keine Wahl: Trotz sinkender Popularität bleibt Selenskyj im Amt

Nach fünf Jahren endet im Mai offiziell die Amtszeit des ukrainischen Präsidenten. Wählen lassen will er nicht. Was dann?

Die Ukraine nähert sich einem brisanten Datum. In nicht einmal zwei Monaten, am 20. Mai, endet die fünfjährige Amtszeit des Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Sagt die Verfassung.

Ein neues Staatsoberhaupt wird jedoch nicht gewählt. Denn seit mehr als zwei Jahren wehrt sich das Land gegen den brutalen Vernichtungskrieg Russlands. Für Wahlkampf ist nicht die rechte Zeit, darin besteht weitgehend Konsens in der Ukraine.

Was aber passiert, wenn Selenskyj nach dem 20. Mai offiziell nicht mehr Präsident ist? Wird er weitermachen als Staatsoberhaupt mit dem Zusatz „ad interim“ („einstweilen“) und allen Vollmachten, wie er selbst glaubt? Oder fallen die Vollmachten des Staatsoberhauptes an den Parlamentspräsidenten, wie es einige Juristen für richtig halten?

Gedrückte Stimmung

Darüber ist eine Diskussion entbrannt. Es geht nicht um juristische Auslegungen. Sehr viel wichtiger ist: Selenskyj hat nach den fünf Jahren seiner Amtszeit Rücksicht zu nehmen auf die Stimmung in der Bevölkerung. Die ist, glaubt man den jüngsten Umfragen des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie, widersprüchlich.

„Die Zustimmungsraten für Selenskyj sind zuletzt auf 61 Prozent gesunken“, sagt Gerhard Mangott, Osteuropa-Experte an der Universität Innsbruck. Zum Vergleich: Bei Kriegsbeginn lag die Zustimmung bei mehr als 80 Prozent. „Jetzt versucht der Präsident einen Befreiungsschlag durch eine große Umbesetzung des Personals in zahlreichen Spitzenpositionen“, erklärt Mangott. Eine Erneuerung von oben. Ob das gelingt?

Selenskyj hat dafür einen Vertrauensvorschuss. Eine überwältigende Mehrheit der Ukrainerinnen und Ukrainer ist trotz der aktuell kritischen Situation an den Fronten weiter davon überzeugt, dass ihr Land den Sieg über den Aggressor Russland davontragen wird. „Mehr als zwei Jahre sind vergangen, und die Menschen verlieren nicht die Widerstandskraft“, fasst Wolodymyr Paniotto, der Chef des Kiewer Soziologie-Instituts, in der „Ukrainska Prawda“ die Ergebnisse seiner Studie zusammen.

Seit September vergangenen Jahres haben die Ukrainerinnen und Ukrainer keine wirklich guten Nachrichten mehr erhalten

Wolodymyr Paniotto, Chef des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie

Zugleich aber zeigen seine Befragungen, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Mannschaft Selenskyjs kontinuierlich schwindet. Immer weniger Menschen glauben, dass dieses Personal den Sieg herbeiführen kann. „Der Grad des Misstrauens übersteigt den Grad des Vertrauens deutlich“, sagt Paniotto. „Seit September vergangenen Jahres haben die Ukrainerinnen und Ukrainer keine wirklich guten Nachrichten mehr erhalten.“

Unerreichbare Ziele

Auch Stefan Meister, Osteuropa-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), konstatiert einen wachsenden Druck auf den Präsidenten. Versprochen hatte Selenskyj vor fünf Jahren, er werde den Frieden für sein Land erringen, die Netzwerke der Korruption zerschlagen und sich nach nur einer Amtszeit aus der Politik zurückziehen. Fünf Jahre später ist keines dieser Ziele auch nur nahe.

„Die Menschen verstehen, dass es nicht nur an ihm hängt, dass der Krieg nicht beendet werden konnte“, schätzt Meister Verhältnis zwischen Präsident und Bevölkerung ein. „Aber vor allem beim Thema Korruption wächst die Kritik, wir sehen die alten Muster von Selenskyj und seinem Umfeld aus der Zeit vor dem Krieg, mit den gleichen Leuten, die eher Teil des Problems sind.“

Je kritischer die Situation im Krieg wird, umso mehr wird Selenskyj unter Druck geraten.

Stefan Meister, Osteuropa-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik

Kontrollmechanismen würden geschwächt und die Zivilgesellschaft moniere, dass in der Präsidialverwaltung autoritäre Tendenzen zunehmen. „Je kritischer die Situation im Krieg wird, umso mehr wird Selenskyj unter Druck geraten“, ist Meister überzeugt.

Inszenierter Rücktritt

Deshalb setzt Selenskyj seit geraumer Zeit auf den grundlegenden Umbau seiner Mannschaft. In einer ersten Phase traf es die Armeeführung, deren Spitzenpositionen innerhalb kürzester Zeit neu besetzt wurden.

Der wichtigste Einschnitt war die als freiwilliger Rücktritt inszenierte Entlassung von Armeechef Waleri Saluschnyj im Februar. Selenskyj versuchte damit offenbar, die Verantwortlichkeit für den Fehlschlag der Gegenoffensive im vergangenen Herbst von sich abzulenken.

Doch es ist fraglich, ob sein Kalkül aufgeht. „Salushnyj ist mit den Erfolgen auf dem Schlachtfeld verbunden, nicht mit dem Misserfolg der Gegenoffensive“, erklärt Paniotta. „Nach seiner Entlassung hatten wir keine Siege.“

Saluschnyj ist laut Umfragen noch immer populärer als der Präsident, sagt Osteuropa-Experte Mangott. Selenskyj fürchtete offenbar zu Recht, dass der General zum politischen Konkurrenten wird. Deshalb wird er in Kürze als Botschafter nach London versetzt. Selenskyj „versucht, mögliche Konkurrenten abzuschieben, damit sie ihm politisch nicht gefährlich werden können“, schätzt auch Meister ein.

An ihre Stelle würden Personen treten, die „vor allem loyal gegenüber dem Präsidenten sind, ohne politische Ambitionen“. Darum geht es offensichtlich auch bei den Umbesetzungen, die jetzt den Präsidentenapparat erreicht haben.

Dieser Tage wurde der Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates, Oleksij Danilow, abgelöst. Er habe sich durch undiplomatische Äußerungen um Kopf und Kragen geredet, meint Mangott. Vor allem gegen China gab es einige unkluge, konfrontative Äußerungen.

Das konterkarierte die Bemühungen Selenskyjs, der seit geraumer Zeit versucht, Peking für seine Idee einer Friedenskonferenz zu interessieren. Sie soll durch eine breite internationale Teilnahme Druck auf Wladimir Putin aufbauen.

Danilow stürzt jetzt ab im Machtgefüge. Er soll, aus einer der zentralen Positionen des ukrainischen Sicherheitsapparates kommend, angeblich Botschafter in der benachbarten Republik Moldau werden.

Auch zahlreiche Spitzenpositionen in der Präsidialverwaltung sind inzwischen neu besetzt. Damit wird es nicht sein Bewenden haben. In den Medien wird bereits darüber spekuliert, dass es demnächst im Außenministerium Veränderungen geben wird.

Unbeliebte graue Eminenz

Doch sein wichtigstes Personalproblem mag Selenskyj offenbar nicht angehen. Es ist sein engster Berater, der Leiter des Präsidialamtes Andrij Yermak. Zwei Drittel aller Ukrainerinnen und Ukrainer vertrauten ihm nicht, geht aus den Umfragen der Kiewer Soziologen hervor.

Yermak war Selenskyjs Anwalt bereits vor der Zeit als Präsident, schon deshalb ist das Verhältnis der beiden sehr eng. Vor allem Teile der Zivilgesellschaft sehen die Machtkonzentration in den Händen von Yermak schon seit langem kritisch.

In den Augen vieler Aktivisten, die gegen die Korruption angehen, ist vor allem er dafür verantwortlich, dass der Kampf gegen diese Netzwerke so schleppend vorankommt. „Möglicherweise wirkt hier das traditionelle Schema: Guter Zar, böser Höfling“, vermutet jedoch Paniotto in der „Ukrainska Prawda“. Einer müsse ja für Fehlschläge verantwortlich sein. Und wenn es nicht der Präsident ist, dann eben seine Rechte Hand.

Die demokratische Opposition zu Selenskyj blickt auf die Entwicklungen mit einiger Sorge. Dass es in der gegenwärtigen Situation nicht realistisch ist, zu wählen, sieht auch sie.

Davor, den Präsidenten nach dem 20. Mai für illegitim zu erklären, schreckt die Opposition jedoch zurück. Es würde dem Kriegsgegner im Kreml direkt in die Hände spielen. Wiewohl sein Wahlergebnis inszeniert war, könnte Wladimir Putin triumphieren: Seht her, ich bin von gut 87 Prozent der Wahlbevölkerung im Amt bestätigt worden. Und ihr in Kiew habt nicht einmal mehr einen rechtmäßigen Präsidenten.

Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko warnte kürzlich vor „autoritären Tendenzen“ im Umfeld Selenskyjs. „In Kriegszeiten gibt es, auch weil das Parlament wenig zu sagen hat, nur wenige Plattformen, auf denen sich die Opposition wirklich artikulieren kann“, betont auch Osteuropa-Experte Meister.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false