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Rauch steigt während des Beschusses aus dem Stahlwerk Azovstal in Mariupol auf.

© dpa/Alexei Alexandrov

Die Gefangenen von Mariupol: „Frauen aus Stahl“ kämpfen für die Freiheit ihrer Männer

Seit über einem Jahr sind fast 2.000 Verteidiger von Mariupol in russischer Kriegsgefangenschaft. Sie hatten die Stadt 86 Tage lang gehalten. Ihre Frauen und Mütter tun alles, um sie zurückzubekommen.

Lyudmyla lebt in einem Dorf in der Region Khmelnytskyi im Westen der Ukraine. Die 47-Jährige hat zehn Kinder, darunter sechs adoptierte, und 16 Enkelkinder. Ihr Leben bis zum Februar 2022 war hart, aber glücklich, so beschreibt sie es. Lyudmyla, die mit 16 Jahren schon heiratete, versorgte Garten und Vieh und half ihren Kindern bei der Betreuung der Enkel. Doch dann kam der Krieg.

Ihr jüngster Sohn, der 25-jährige Wolodymyr, der seit seiner Kindheit davon geträumt hatte, Soldat zu werden, hatte da gerade die Militärakademie abgeschlossen und seinen Dienst beim Ersten Grenzschutzkommando in Mariupol angetreten.

Gleich zu Beginn der Invasion wurde er schwer verwundet. Mitglieder des Asow-Regiments, das eine wichtige Rolle bei der Verteidigung von Mariupol hatte, fanden ihn bewusstlos auf und brachten ihn in ein örtliches Krankenhaus. Zusammen mit ihnen geriet er in russische Kriegsgefangenschaft.

Lyudmyla erfuhr davon erst Monate später, im Juni letzten Jahres. Ein Kamerad von Wolodymyr war durch einen Gefangenenaustausch freigekommen und berichtete ihr davon.

Später, im August, erfuhr Lyudmyla durch eine Gruppe von Müttern von Kriegsgefangenen, dass Wolodymyr in ein Lager in der selbsternannten Volksrepublik Donezk (VRD) verlegt worden war. Sie selbst hat keinen Kontakt mehr mit ihm.

Die 26-jährige Evgenia verlor ihn zu ihrem Mann. Alexander, Vater ihrer drei Kinder, war zum Zeitpunkt der Invasion an der ukrainisch-russischen Grenze im Einsatz. Am 24. Februar 2022 um 5 Uhr morgens klingelte ein Anruf von ihm sie aus dem Bett. Er berichtete ihr vom Beginn des Krieges und bat sie dringend zu packen: „Du und die Kinder müsst dahin, wo es sicher ist.“

Doch sie blieb in Mariupol. Als Waise hatte sie niemanden, zu dem sie gehen konnte. Ihr Platz, so empfand sie es, sei an der Seite ihres Mannes. Auch dessen Eltern wollten bleiben.

Evgenias Ehemann diente an der Grenze zu Russland.
Evgenias Ehemann diente an der Grenze zu Russland.

© Yulia Valova

Fast zwei Monate lang verbrachte die junge Frau mit ihren kleinen Kindern in einem kalten Keller unter ständigem Feuer und wartete auf Neuigkeiten ihres Liebsten.

Am 25. April brachte einer seiner Kollegen eine Kiste mit Konserven und Brot und eine Nachricht von Alexander, der zu dieser Zeit mit um das Asow-Stahlwerk von Mariupol kämpfte.

„Mir geht es gut“, schrieb er ihr. „Nimm die Kinder und geh. Sonst geht ihr in den Tod.“ Mit Unterstützung von Freiwilligen floh Evgenia mit ihren Kindern am nächsten Tag nach Kiew.

Meine Kinder wissen, dass ihr Vater ein Kriegsgefangener ist. Er ist unser Held, und wir müssen für seine Rückkehr kämpfen.

Evgenia über ihren Mann Alexander

Das letzte Mal, dass Evgenia mit ihrem Mann sprach, war am 19. Mai letzten Jahres. Da rief er an und sagte ihr, dass er bald im Fernsehen zu sehen sein würde, in Videoaufnahmen, die das Rote Kreuz aufgenommen hatte, als die Verteidiger von Azovstal auf Geheiß der Kiewer Armeeführung kapitulierten.

1900 Verteidiger des Stahlwerks wurden Kriegsgefangene

Die 59-jährige Galyna, Angestellte in der Stadtverwaltung von Nikopol weiß nichts mehr über ihren Sohn Artem. Der 36-Jährige war gerade nach fünf Jahren Pressearbeit für das Asow-Regiment ins Zivilleben zurückgekehrt.

Als die Invasion begann, ging der Reserveoffizier wieder zur Armee. Ein Scharfschütze verletzte ihn lebensgefährlich am Hals. Er konnte operiert werden, kämpfte aber tagelang um sein Leben. Seit April ist die Verbindung zu ihm abgebrochen. Artem wurde bei der Verlegung in ein russisches Gefangenenlager zum letzten Mal gesehen.

Galyna wartet auf die Rückkehr ihres Sohnes aus der russischen Gefangenschaft.
Galyna wartet auf die Rückkehr ihres Sohnes aus der russischen Gefangenschaft.

© Yulia Valova

Lyudmyla, Evgenia und Galyna sind nicht allein mit ihrer Angst um Ehemänner und Söhne. Nach Angaben der Vertreterin der Vereinigung der Familien der Verteidiger von Azovstal, Evgenia Synelnyk, gerieten etwa 1.900 Soldaten in Gefangenschaft, als das Stahlwerk in russische Hände überging. Es handelt sich um Angehörige des Asow-Regiments, der Nationalgarde, der Streitkräfte, der Marine und des Grenzschutzes. Insgesamt befinden sich nach Angaben ukrainischer zivilgesellschaftlicher Organisationen derzeit mindestens 10.000 ukrainische Soldaten in russischer Gefangenschaft.

„Zu Beginn der Invasion hat Russland mehrere Lager und Gefängnisse in den an die Ukraine angrenzenden Regionen reserviert. Doch als sie später feststellten, dass der Platz nicht für alle reichte, begannen sie, sie ins Innere der Russischen Föderation zu verlegen“, sagt Synelnyk.

20
Prozent der Verteidiger des Stahlwerks Azovstal konnten bisher zurückgeholt werden.

Nach Ansicht von Tetyana Katrychenko, Koordinatorin der Medieninitiative für Menschenrechte, verlegt Russland die Gefangenen auch, um ihre Spuren zu verwischen und es der Ukraine unmöglich zu machen, ihre Bürger wiederzufinden.

Die ukrainischen Kriegsgefangenen würden an mehreren Dutzend Orten festgehalten, die sich geografisch über ein sehr großes Gebiet erstrecken, sowohl ukrainisches Land unter russischer Kontrolle als auch russisches. Trotz aller Bemühungen ukrainischer Menschenrechtsaktivisten, des Ombudsmanns und von Regierungsbeamten wurden innerhalb von zwölf Monaten nur 20 Prozent jener Gefangenen zurückgebracht, die bis zum Schluss als Verteidiger des Stahlwerks ausgeharrt hatten.

Für ihre Rückkehr kämpfen nun, gemeinsam mit internationalen Organisationen wie dem Roten Kreuz, ihre Ehefrauen und Mütter.

Lyudmyla ist Mutter eines gefangenen ukrainischen Soldaten.
Lyudmyla ist Mutter eines gefangenen ukrainischen Soldaten.

© Yulia Valova

Lyudmyla, die vergangenen Jahr ein Dutzend Mal erfolglos das Verteidigungsministerium, die Spionageabwehr und das Büro des Ombudsmanns in Kiew aufsuchte, hat sich inzwischen einer Initiativgruppe anderer Mütter und Ehefrauen angeschlossen. Über einen Telegram-Kanal tauschen die Frauen Informationen über die Gefangenen aus, diskutieren Such-Strategien und organisieren öffentliche Veranstaltungen.

Ein Video des Vaters spendet Trost

Auf einer Solidaritätsveranstaltung in Warschau stand Lyudmyla zwei Tage im kalten Regen, in der Hand eine Flagge des ukrainischen Grenzdiensts. Um die Reise zu finanzieren, verkaufte ihre Familie eine ihrer Kühe. Ihren Versuch, auf eigene Faust die Grenze zur VRD zu überqueren und in den Gefängnissen dort nach Wolodymyr zu suchen, musste sie aufgeben. Sie kehrte zurück, weil ihr die Kraft fehlte.

Die Russen wollen die Grenzsoldaten nicht zurückschicken.

Lyudmyla, Mutter eines gefangenen ukrainischen Soldaten

„Wir wollten die Presse und die koordinierende Zentrale unbedingt auf das Schicksal unserer Söhne aufmerksam machen“, sagt Lyudmyla. „Die Russen wollen die Grenzsoldaten nicht zurückschicken. Und Menschenrechtsaktivisten kümmern sich nur um Asow. Unter den 30 bis 40 Gruppen von Kriegsgefangenen, die nach dem Austausch zurückkehren, sind nur wenige Grenzsoldaten.“

Evgenia sieht sich manchmal mit ihren Kindern ein Video auf ihrem Handy an. Alexander konnte es aufnehmen, weil er das vor den Russen versteckte Telefon eines Kameraden im Tausch gegen eine Essensration benutzen durfte. „Meine Kinder wissen, dass ihr Vater ein Kriegsgefangener ist. Er ist unser Held, und wir müssen für seine Rückkehr kämpfen“, sagt die junge Mutter.

10
Minuten pro Woche dürfen Alexander und seine Mitgefangenen in den Hof.

Seit ihrem Umzug in die Hauptstadt hat Evgenia keinen einzigen Behördengang und keine Kundgebung der „Frauen aus Stahl“ verpasst, der Mütter und Ehefrauen der Verteidiger von Azovstal. Ihre Kinder begleiten sie. Auf mehreren Telegram-Kanälen, die russische und ukrainische Freiwillige eingerichtet haben, sucht sie ständig nach Informationen.

Im Lager träumt Alexander von einem vierten Kind

Seit März weiß sie zumindest, dass ihr Mann sich in der Stadt Kamenez-Schachtinski im Gebiet Rostow aufhält. Das dortige Kriegsgefangenenlager soll im Vergleich zu anderen erträglich sein. Die Häftlinge erhalten mehrmals täglich Essen und dürfen einmal pro Woche für zehn Minuten zu einem Hofgang an die Luft.

Das sagte Evgenia ein Militärangehöriger, der Alexander sah. „Er sagte, mein Mann lebe, sei gesund, vermisse seine Familie und träume von einem vierten Kind“, sagt sie lächelnd.

Für alle Frauen sind die Männer ständiger Gedanke. Dass ihr Sohn in der Hand des Feinds ist, hat Lyudmylas Kräfte geschwächt. Sie ist in einem Jahr stark gealtert. Sie hat jetzt Diabetes im Stadium IV und Krebs. Jeden Tag fleht Lyudmyla Gott an, sie am Leben zu erhalten, bis ihr Sohn nach Hause zurückkehrt.

Ich wache auf und spüre immer noch die warmen Hände meines Sohnes in meinen Handflächen.

Galyna wartet auf die Rückkehr ihres Sohnes.

Zusammen mit anderen Frauen hat sie einen Magnoliengarten im Kultur- und Kulturpark Khmelnytsky angelegt. Lyudmyla betrachtet die Magnolienblüte als Symbol der Hoffnung. Sie wird weiterhin für die Rückkehr ihres Sohnes und ihres Lebens kämpfen.

Kindheitserinnerungen gegen die Sehnsucht

Galyna erzählt von einem Traum, den sie hatte, als ihr Sohn verwundet wurde: „Ich stehe am Rande des Abgrunds. Regen. Überall rutschiger Lehm. Plötzlich sehe ich, wie Hände aus dem Abgrund nach mir greifen. Ich verstehe, dass dies die Hände meines Artem sind und dass ich sie mit Kraft ergreifen muss. Ich beginne zu ziehen. Ich ziehe so stark, dass meine Arme taub werden und meine Muskeln sich verkrampfen. Ich wache auf und spüre immer noch die warmen Hände meines Sohnes in meinen Handflächen.“

Wie andere Frauen aus Stahl aktiviert Galyna nach jedem Gefangenenaustausch die Kommunikation mit den Müttern von Asow. Die Gespräche dauern nicht lange. „Er ist nicht zurückgekommen? Nein, nicht zurück. Das ist das ganze Gespräch.“

Um die Sehnsucht nach ihm auszuhalten, erinnert sich Galyna oft an lustige Geschichten aus Artems Kindheit. Sein Lieblingsrucksack ist gepackt, was darin ist, wechselt sie je nach Jahreszeit: Im Frühjahr die Wintersachen, nach dem Sommer kommt die Herbstkleidung hinein. Käme er zurück, würde er sogar einen Vorrat seiner Lieblingsgerichte im Kühlschrank finden.

„Ich fühle in meinem Herzen, dass Artem lebt“, sagt Galyna. „Er ist ein willensstarker Mensch. Nach seiner Verwundung war er bereits am Rande des Todes. Er wird lebend zurückkehren.“

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