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Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Bundeskanzler Olaf Scholz im März im Kanzleramt.

© Imago/Chris Emil Janßen

Deutsches Dilemma bei Israels Justizreform: Schweigen geht nicht, Kritik im Alleingang auch nicht

Israels höchstes Gericht entscheidet im September über die umstrittene Justizreform. Das gibt Deutschland Zeit, die Bedenken gegen die Aushöhlung der Gewaltenteilung mit den EU-Partnern vorzubringen.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Israels rechte Regierung schlägt einen gefährlichen Weg ein. In letzter Konsequenz führt er zum Ende der Gewaltenteilung. Wenn das Oberste Gericht Handlungen der Exekutive oder der Legislative, die gegen Israels Grundgesetze verstoßen, nicht mehr stoppen kann, dann gleicht das einer Aushöhlung von Rechtsstaat und Demokratie.

Was kann Deutschland in dieser Lage tun? In den Medien entfaltet sich eine offene Debatte, was die Lehre aus der Geschichte sei: einmischen oder schweigen. Die Bundesregierung agiert übervorsichtig. Nun schenkt ihr die Entscheidung des Obersten Gerichts in Israel Zeit, zu einer stimmigen Haltung zu finden. Das Gericht will sich im September mit dem Eingriff in das Justizwesen und die Gewaltenteilung befassen.

Berlin hat nun wenige Wochen, um festzulegen, welcher Linie es folgt: heraushalten oder offen die israelische Zivilgesellschaft unterstützen, die mit mutigen und konsequenten Protesten die Demokratie und den Rechtsstaat verteidigt? Oder einen dritten Weg einschlagen, der die Argumente Pro und Contra aufnimmt?

Scholz gegen Einmischung in Israels Innenpolitik

Die Argumentationslinien, mit denen Kommentatoren ihre Forderung entweder nach Heraushalten oder nach Einmischen begründen, haben Stärken, aber auch Schwachpunkte. Die Einen mahnen zur Zurückhaltung und stützen sich im Wesentlichen auf zwei Begründungen.

Der Eingriff in den Rechtsstaat sei nicht so gravierend, im Übrigen sei Israels Justizsystem reformbedürftig. Und dies sei ein innerisraelischer Konflikt, den die dortige Gesellschaft lösen müsse.

Oft wird zudem auf den Holocaust verwiesen, mal nebenbei, mal mit der Mahnung, Deutschland müsse sich zurückhalten. „Es ist jetzt nicht die Aufgabe eines deutschen Regierungschefs, sich in die konkreten Details der Innenpolitik Israels einzumischen“, legte Kanzler Olaf Scholz in der Pressekonferenz bei Netanjahus Besuch im März fest. Er hatte sie mit der Erinnerung an die Shoah eingeleitet.

Andere meinen, Deutschland dürfe nicht schweigen, wenn in einem befreundeten Land der Rechtsstaat abgebaut werde. Der von Deutschen begangene Völkermord an den Juden sei kein prinzipielles Hindernis, Bedenken zu äußern.

Von deutscher Perversion zur Prädestination

Doch dann folgen mitunter Empfehlungen, was Bundeskanzler Olaf Scholz persönlich oder seine Regierung nun tun sollten, die die berechtigten Einwände ignorieren. Sie gipfeln in der Aufforderung, Deutschland solle sich Israel als Vorbild für einen Verfassungsstaat andienen.

Vom Verbrecherstaat zum Vorbild? Der Historiker Heinrich August Winkler hat in diesem Kontext immer wieder vor einem Missverständnis gewarnt. Deutsche dürften aus dem Umstand, dass ihre Nation ein singuläres Menschheitsverbrechen begangen, sich aber gewandelt habe, nicht eine missionarische Aufgabe in dem Sinne ableiten: Sie könnten heute besser als andere beurteilen, was richtig und was falsch sei. „Von der Perversion zur Prädestination“, karikiert Winkler diese Haltung.

Deutschland taugt nicht als Israels Lehrmeister

Ratschläge aus Deutschland – womöglich noch aus einer Haltung moralischer Überlegenheit – verbieten sich gegenüber dem jüdischen Volk, das am schlimmsten unter der Nazi-Diktatur gelitten hat. Erst Menschen vergasen, weil sie Juden sind, und dann wie ein Lehrmeister den Israelis erklären, wie Demokratie und Rechtsstaat funktionieren? Das geht gar nicht!

Gibt es einen Ausweg aus dem Dilemma? Ja. Deutschland darf nicht schweigen zum Angriff der Regierung Netanjahu auf den Rechtsstaat. Aber die Bundesregierung kann auch nicht solo harte Kritik an Israel üben.

Die Alternative: Deutschland äußert seine Bedenken gemeinsam mit anderen. Idealerweise in einer Stellungnahme mit den europäischen Partnern. Bundesjustizminister Marco Buschmann kann sich mit den EU-Justizministern abstimmen, Annalena Baerbock mit dem Rat der EU-Außenminister.

Diese Strategie verfolgt Deutschland bereits im Verhältnis zu Polen. Auch diese Beziehung ist durch die deutschen Verbrechen belastet und bis in die Gegenwart heikel. Deshalb hält sich Berlin mit deutscher Kritik an der dortigen Justizreform zurück, die ebenfalls das Ziel hat, die Gerichte der Politik unterzuordnen. Berlin verweist stattdessen auf die Stellungnahme der EU-Institutionen und unterstützt deren Bedenken.

Denn man weiß: Wenn Deutschland sich zur Speerspitze der Kritik an Polen macht, wirkt das kontraproduktiv. Die Regierungspartei PiS verbittet sich eine Einmischung „ausgerechnet aus Deutschland“ und gewinnt an Zustimmung. Ganz ähnlich würde wohl die Regierung Netanjahu reagieren und unerbetene deutsche Ratschläge für ihre Interessen nutzen.

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