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Ein Arzt im syrischen Erdbebengebiet untersucht einen Patienten.

© Reuters/Mahmoud Hassano

Verletzte werden nach Farben eingeteilt: Die „Blauen“ haben kaum Überlebenschancen – und werden nicht behandelt

Die dramatischen Folgen des Erdbebens in der Türkei und Syrien werden deutlicher. Gefordert sind jetzt Katastrophenmediziner – wie entscheiden sie, wenn es um Leben oder Tod geht?

Zehntausende Tote, noch viel mehr Verletzte, unzählige Vermisste. Dazu Trümmer, Schutt und Asche – vielerorts steht kein Stein mehr auf dem anderen. Bilder von verzweifelten Überlebenden, erschöpften Rettenden und trauernden Angehörigen gehen um die Welt. Dennoch: Auch eine Woche nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei und Syrien ist das ganze Ausmaß der Katastrophe kaum greifbarer geworden.

In der Türkei wird die Situation im Erdbebengebiet immer mehr zum Politikum. Die Menschen dort werfen der Regierung von Recep Tayyip Erdogan vor, Hinweise von Forschern missachtet zu haben, die rechtzeitig vor einer Katastrophe gewarnt hatten. Auch sei zu viel Zeit vergangen, bis die Hilfe richtig anlief.

Im kriegsgebeutelten Syrien kommt dagegen kaum Unterstützung an. Die Vereinten Nationen befürchten einen dramatischen Anstieg der Wohnungslosen, in Syrien seien bereits mehr als fünf Millionen Menschen aufgrund des Bebens ohne Obdach. Den Überlebenden drohen Hunger, Armut und Krankheit – eine Katastrophe nach der Katastrophe.

Einer, der weiß, worauf es deshalb jetzt ankommt, ist Tankred Stöbe. Der Notfallmediziner ist ein Routinier. Er versorgte Ebola-Kranke in Westafrika, baute ein unterirdisches Krankenhaus in Syrien, war in Afghanistan, Gaza, im Jemen und kehrte erst im Januar aus der Ukraine zurück. Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist der Berliner Internist für die Nichtregierungsorganisation (NGO) Ärzte ohne Grenzen weltweit im Einsatz.

Die Katastrophenmedizin konzentriere sich in den ersten Tagen nach einem Erdbeben auf die Verletzten, sagt er im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Knochenbrüche, Quetschungen, Unterkühlungen oder durch Staub hervorgerufene Atemwegserkrankungen – solche Leiden müssten Pflegende und Ärzt:innen jetzt behandeln. Weitere Überlebende zu finden, sagt Stöbe aber auch, werde von Tag zu Tag unwahrscheinlicher.

„Die hoffnungsvollen Nachrichten über jetzt noch Gerettete müssen mit großer Vorsicht betrachtet werden“, warnt er. Sind Menschen lange verschüttet, komme es häufig zum sogenannten Bergungstod. Ein medizinisches Phänomen, bei dem Menschen kurz nach der Rettung plötzlich sterben. Oft bricht der Kreislauf zusammen.

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Viele Leichen sind zudem überhaupt noch nicht geborgen, und es fehlen Sanitäranlagen. Beides könnte bewirken, dass das wenige saubere Trinkwasser verunreinigt wird. Dadurch droht die Gefahr von Infektionskrankheiten wie Cholera.

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Intensivmediziner Stöbe misst dieser Bedrohung allerdings derzeit nicht so große Bedeutung zu: „Die Gefahr von Seuchenausbrüchen wird oft überschätzt, auch medial.“ Für Notfallmediziner:innen stehe diese „jetzt nicht im Vordergrund.“

Vielmehr komme es jetzt darauf an, Schwerverletzte zu versorgen. „Sobald mehr medizinisches Personal vor Ort ist, kann man auch die Leichtverletzten behandeln“, sagt Stöbe. Dafür werde es in den kommenden Tagen aber wohl keine Kapazitäten geben.

Verletzte werden nach Farbeinteilung behandelt – oder eben nicht

Um jetzt so viele Menschen wie möglich noch retten zu können, werden in Katastrophenfällen Verwundete in Farben eingeteilt. Patienten mit einer grünen Karte gelten als nur leichtverletzt und brauchen erst einmal keine Nothilfe, Schwerverletzte bekommen eine rote Karte. Ihre Behandlung ist sofort erforderlich. Die „Blauen“ haben dieser Einteilung zufolge kaum Überlebenschancen – und werden deshalb nicht behandelt.

Internist und Notfallmediziner Tankred Stöbe
Internist und Notfallmediziner Tankred Stöbe

© dpa/Jörg Carstensen

Man müsse in einer solchen Situation – zu wenig geschultes Personal für viel zu viele Notfälle – entscheiden, „welche Patienten von medizinischer Betreuung am meisten profitieren“, sagt Stöbe. Etwa alle 30 Minuten wird die Farbeinteilung überprüft – und das medizinische Personal muss die schwere Entscheidung treffen: Ist der „Rote“ vielleicht jetzt ein „Blauer“?

Neben der oft noch ungenügenden medizinischen Hilfe droht Hunderttausenden, wenn nicht Millionen Menschen im Katastrophengebiet Hunger. Eine Versorgungsinfrastruktur existiert aufgrund der enormen Zerstörung vielerorts nicht mehr. An Lebensmittel heranzukommen, ist für die zumeist obdachlos gewordenen Überlebenden sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich.

Eines der wichtigsten Bedürfnisse: Nahrungsmittel

Im Südosten der Türkei gibt es zumindest staatliche Behörden und Hilfsorganisationen wie den Roten Halbmond, die dafür zuständig sind, die Not zu lindern. Auch das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) ist dort seit einigen Tagen aktiv.

So werden in der Region sofort verwendbare Nahrungsmittelpakete an Familien ausgegeben, die in provisorischen Camps und anderen Notunterkünften vorläufigen Schutz gefunden haben. Außerdem will WFP die Gemeinden dabei unterstützen, während der Corona-Pandemie eingerichtete Suppenküchen zu reaktivieren, um täglich warme Mahlzeiten anbieten zu können.

Überlebende des Erdbebens im türkischen Kahramanmaras
Überlebende des Erdbebens im türkischen Kahramanmaras

© Reuters/Suhaib Salem

Eigenen Angaben zufolge hat die Organisation 115.000 Essensrationen an Notleidende in der Türkei und Syrien verteilt. „Für die Tausenden von Menschen, die von den Erdbeben betroffen sind, ist die Versorgung mit Nahrungsmitteln im Moment eines der wichtigsten Bedürfnisse“, sagt Corinne Fleischer, WFP-Regionaldirektorin für den Nahen Osten und Nordafrika.

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Millionen Menschen hungern in Syrien bereits jetzt.

In Syrien ist die Lage besonders dramatisch. Dort hungerten bereits zwölf Millionen Menschen. Viele sind so verarmt, dass sich nicht wissen, woher sie ihre nächste Mahlzeit bekommen sollen. Nun hat die Naturkatastrophe nicht nur Tausende getötet und verletzt, sondern viele auch zu Obdachlosen gemacht.

Besonders groß sind die Not und der Bedarf an Hilfe in der Region Idlib im Nordwesten des Landes. Die Provinz – das letzte noch verbliebene, von islamistischen Kräften beherrschte Rückzugsgebiet der Aufständischen – ist von internationalen Hilfslieferungen weitgehend abgeschnitten.

Sie werden von Machthaber Baschar al Assad immer wieder blockiert. Etwas über vier Millionen Einwohner zählt Idlib, die meisten lebten in Zelten, behelfsmäßigen Unterkünften oder verlassenen Gebäuden – bis ihnen das Beben auch noch das Wenige nahm.

Wir haben die Menschen im Nordwesten Syriens bisher im Stich gelassen.

Martin Griffiths, UN-Nothilfekoordinator

Immerhin kann sich das Welternährungsprogramm bei seiner Unterstützung auf seit Langem bestehende Strukturen wie Mitarbeitende und Logistikkapazitäten stützen. So stellte die Organisation nach eigenen Angaben im Nordwesten Syriens verzehrfertige Nahrungsmittel für bisher 45.000 Menschen zur Verfügung. Partnerorganisationen würden weitere 100.000 mit Mahlzeiten versorgen. Das dürfte allerdings kaum ausreichen.

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Doch die Versorgung der Notleidenden in Idlib erfolgt – auf Betreiben des syrischen Regimes und des mit ihm Verbündeten Russland – nach wie vor allein über den türkisch-syrischen Grenzübergang Bab al Hawa. Und der ist durch das Beben beschädigt.

Deshalb fordern Hilfsorganisationen und die UN ebenso wie Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), rasch andere Kontrollpunkte zu öffnen. Noch ohne nennenswerten Erfolg. Bisher hat lediglich ein Hilfskonvoi mit 14 Lkw Idlib erreicht, und diese Hilfslieferung war schon vor dem Erdbeben losgeschickt worden.

Der Zorn der dort lebenden Menschen richtet sich vor allem gegen die Vereinten Nationen, die nicht genug täten. Am Sonntag gab UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths zu: „Wir haben die Menschen im Nordwesten Syriens bisher im Stich gelassen.“ Die Weltgemeinschaft habe versagt.

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