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Fast jede Familie in Idlib ist auf Lebensmittellieferungen angewiesen.

© Reuters/ Khalil Ashawi

Russland will Grenzübergang für Helfer schließen: Was dem syrischen Idlib droht

Millionen Menschen in Syriens Provinz Idlib werden nur über einen Grenzübergang versorgt. Russland will ihn nun dichtmachen. Wird Hilfe zur Waffe?

Der Landstraße D827 außerhalb der südtürkischen Stadt Reyhanli sieht man ihre weltpolitische Bedeutung nicht an. Der Weg führt durch Felder und karge Landschaft, bevor er in Cilvegözü endet, einem Grenzübergang, der auf syrischer Seite Bab al-Hawa heißt.

Dutzende Lastwagen mit Hilfslieferungen der Vereinten Nationen rollen jeden Tag über Bab al-Hawa in die syrische Provinz Idlib, die letzte Rebellenbastion in Syrien nach mehr als zehn Jahren Krieg.

Etwa vier Millionen Menschen hängen von den Lieferungen ab – doch Russland will das Tor Anfang Juli schließen und durchsetzen, dass Hilfe nur noch über die Regierung von Präsident Baschar al-Assad verteilt werden darf. Wird der Übergang für die Vereinten Nationen und andere Helfer gesperrt, könnte der russische Verbündete Assad versuchen, die Region Idlib auszuhungern.

Das befürchtet zumindest der Arzt Mohamed Altwaish in Idlib: „Nach einer Schließung von Bab al-Hawa wären vier Millionen Menschen in der Hand von Assad, Russland und Iran.“ Eine neue Massenflucht aus Idlib in die Türkei und nach Europa könnte die Folge sein, sagt Altwaish, der selbst in Idlib lebt, im Gespräch mit dem Tagesspiegel.

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In den ersten Jahren des syrischen Bürgerkrieges richteten die UN und internationale Hilfsorganisationen vier Grenzkorridore ein, mit denen Nahrung, Medikamente und andere wichtige Güter aus dem Ausland in Rebellengebiete gebracht wurden; die Bevölkerung in den von Assad kontrollierten Landesteilen wird über Damaskus versorgt.

Die Genehmigung für Bab al-Hawa läuft in wenigen Tagen aus

Die militärischen Erfolge der Regierungstruppen seit dem russischen Kriegseintritt 2015 ließen die Oppositionsgebiete in den vergangenen Jahren schrumpfen. Im Nordwesten Syriens ist Idlib die einzig verbliebene Enklave der Aufständischen. Die Gegend wird größtenteils von der islamistischen HTS-Miliz kontrolliert.

Russland nutzt seinen Status als Vetomacht im Weltsicherheitsrat, um die internationalen Hilfskorridore zu schließen. Anfang vergangenen Jahres wurden zwei Zugänge gesperrt, wenige Monate später wurde ein weiterer Übergang geschlossen. Seitdem ist Bab al-Hawa das einzige Nadelöhr. Aber die Genehmigung für UN-Transporte über Bab al-Hawa läuft am 10. Juli aus.

Lasst Bab al-Hawa offen! Kinder fordern, dass der Grenzübergang nicht geschlossen wird.
Lasst Bab al-Hawa offen! Kinder fordern, dass der Grenzübergang nicht geschlossen wird.

© Khalil Ashawi/Reuters

Die Bedeutung des Grenzorts ist kaum zu überschätzen. Die Lastwagen bringen Lebensmittel, Medikamente, Kindernahrung und Schulbücher nach Idlib. Auch die Lieferung von Corona-Impfstoff läuft über Bab al-Hawa. UN-Generalsekretär Antonio Guterres warnte diese Woche, ohne Verlängerung des Mandats für Bab al-Hawa komme eine Katastrophe auf die Menschen in Idlib zu.

Das Washingtoner Nahost-Institut kam in einer Analyse zu dem Schluss, die syrische Regierung könnte die Kontrolle über die Hilfslieferungen dazu benutzen, Rebellengebiete „zur Kapitulation zu zwingen“.

Das erwartet auch der Arzt Altwaish, medizinischer Koordinator der Hilfsorganisation Hihfad in Idlib. Zwei der vier Millionen Menschen in der Provinz seien aus anderen Teilen Syriens in die Gegend geflohen, sagt er. Eine Million Menschen leben nach seinen Worten in Auffanglagern. Die Infrastruktur in der Gegend sei durch Luftangriffe von Syrern und Russen größtenteils zerstört.

Grundnahrungsmittel sind für viele Familien unerschwinglich

Überhaupt ist die Lage im Nordwesten des Landes besonders dramatisch. Und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Da ist zum Beispiel der Hunger. Die Menschen sind darauf angewiesen, dass ihnen Tag für Tag geholfen wird. Denn die meisten Familien haben keine Möglichkeit, sich selbst ausreichend zu versorgen.

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Die Wirtschaft liegt am Boden, Jobs gibt es keine. Damit fehlen Einkünfte, um sich Lebensmittel oder Trinkwasser zu beschaffen. Zugleich sind die Preise in die Höhe geschnellt – bei einigen Produkten des täglichen Bedarfs um mehr als 220 Prozent. Für die meisten ist das unerschwinglich. Auch weil die Währung nichts mehr wert ist. 80 Prozent der Flüchtlinge, viele von ihnen wurden in den vergangenen Jahren mehrfach vertrieben, leben unter der Armutsgrenze.

Kinderarbeit und Kinderheiraten sind weit verbreitet

Das hat fatale Folgen vor allem für Kinder. Einem neuen Bericht des International Rescue Committees zufolge ist es weit verbreitet, dass Mädchen und Jungen sowohl arbeiten müssen als auch früh verheiratet werden. An einen Schulbesuch ist in der Regel nicht zu denken. Ganz abgesehen davon, dass Hunderttausende Heranwachsende akut und lebensbedrohlich mangelernährt sind.

In Idlib und anderen Landesteilen Syriens sind viele Kinder lebensbedrohlich unterernährt.
In Idlib und anderen Landesteilen Syriens sind viele Kinder lebensbedrohlich unterernährt.

© Anas Alkharboutli/dpa

Alarmierend ist laut Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen auch die Situation im Gesundheitswesen. Kliniken sind zerstört, es fehlt an Mediziner:innen, Pflegekräften und Medikamenten. Das macht den Kampf gegen die Covid-19-Pandemie schon heute fast unmöglich.

Der Nordwesten Syriens ist darauf angewiesen, dass Sauerstoff, Schutzmasken und vor allem Impfstoff über den letzten verbliebenen Grenzübergang geliefert wird. Von allem gibt es viel zu wenig. Die Infektionszahlen steigen.

Ohne den Übergang Bab al-Hawa würde sich die Lage in Idlib nochmals dramatisch verschärfen. Davon sind die Helfer überzeugt. Auch der Arzt Altwaish glaubt das: „Armut, Verbrechen und Gewalt werden zunehmen. Und viele Leute werden versuchen, über die Grenze in die Türkei und weiter nach Europa zu kommen.“ Er hofft, dass Druck westlicher Staaten auf Russland und China den Grenzübergang offenhalten wird.

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Irland und Norwegen haben eine Resolution für den UN-Sicherheitsrat ausgearbeitet, mit der die Lkw-Transporte über Bab al-Hawa künftig gesichert werden sollen. Außerdem müsste ein im vergangenen Jahr geschlossener Übergang vom Irak in den kurdisch kontrollierten Nordosten Syriens wieder geöffnet werden, meldet die Nachrichtenagentur AP unter Berufung auf den Resolutionsentwurf.

Der Westen droht mit einem Ende der Syrienhilfe - Moskau spricht von einem Erpressungsversuch

Westliche Staaten drohen damit, ihre Syrien-Hilfe zurückzufahren, wenn Bab al-Hawa geschlossen wird. Moskau weist dies als Erpressungsversuch zurück. Bis zum Stichtag am 10. Juli will Russland, das von China unterstützt wird, den Beweis antreten, dass Bab al-Hawa nicht mehr gebraucht wird.

Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen könnte nach Moskauer Angaben ein Verteilzentrum für Hilfsgüter in Idlib vom syrischen Regierungsgebiet aus ansteuern. Russland wirft den Islamisten der HTS und der Türkei vor, Lieferungen aus Assads Gebieten zu sabotieren.

Damaskus verhindert Hilfslieferungen

Allerdings verhindert Damaskus bisher Hilfskonvois über die Front nach Idlib – und nichts deutet darauf hin, dass sich das ändern könnte.

Mark Lowcock, bis vor kurzem UN-Hilfskoordinator, berichtete bereits im Mai von monatelangen ergebnislosen Verhandlungen über Lieferungen, die aus dem Regierungsgebiet nach Idlib gehen sollten. Er hoffe, es werde bald eine Lösung geben, sagte Lowcock damals. Die Lastwagen sind bis heute nicht auf dem Weg.

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