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Argentinische Fans feiern in der Heimat den Titelgewinn.

© action press / SOPA Images/Alejo Manuel Avila

Argentinien im Ausnahmezustand: Ein Titel, der für einen Moment eint

Der Weltmeistertitel für Argentinien eint das tief gespaltene Land. Zumindest für einen Moment. Können die politischen Streitigkeiten durch den WM-Effekt langfristig beigelegt werden?

Von Marcus Christoph

Ein Land im Ausnahmezustand. Als Gonzalo Montiel im Finalkrimi gegen Frankreich den entscheidenden Elfmeter im Tor des Gegners unterbrachte, kannte der Jubel in ganz Argentinien keine Grenzen mehr. In der Hauptstadt Buenos Aires hatten sich Tausende zum Public Viewing in den Grünanlagen des Stadtteils Palermo eingefunden.

Nach dem Abpfiff zogen viele von ihnen in die Innenstadt der Millionenmetropole. Argentinischen Medien berichteten von einer Millionen Menschen, die um den Obelisken auf dem Boulevard „9 de Julio“ herum feierten. Alle Argentinierinnen und Argentinier vereint hinter ihrer „Selección“ und deren Kapitän Lionel Messi.

Dabei sind Bilder einer solchen Einigkeit für Argentinien eine absolute Ausnahme: „Wir haben eine sehr tiefe politische Spaltung des Landes“, sagt Atilio Bleta. Der heute 74-Jährige war zehn Jahre lang als Berichterstatter der landesweit auflagenstärksten Tageszeitung „Clarín“ im Präsidentenpalast Casa Rosada akkreditiert.

Politischer Streit entzweit das ganze Land

Der WM-Triumph habe nun für „einen Augenblick“ die Spaltung gelöscht. „Das hat man schon lange nicht mehr erlebt.“ Die Freude vereinte für einen kurzen Moment alle Gesellschaftsschichten.

So lange man am Sonntag auch durch die Straßen der Hauptstadt zog, nirgends sah man eine politische Losung oder sonstige Werbung für Parteien. Bemerkenswert für eine Metropole, in der gefühlt fast täglich politische Kundgebungen und Demonstrationen stattfinden.

Wenigstens für ein paar Stunden war der politische Streit ausgeblendet“, beschreibt Bleta. Doch dürfte es wohl bei einer Momentaufnahme bleiben. „Im Januar sieht die Welt dann wieder anders aus“, kommentiert der Journalist.

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Million Argentinier feierten den WM-Triumph in Buenos Aires

Denn die Trennlinie, zu welchem politischen Lager man gehört, durchzieht in Argentinien mitunter sogar Familien. Auf der einen Seite steht das Regierungslager, in der die linkspopulistische Vizepräsidentin Cristina Kirchner die eigentliche Strippenzieherin ist. Die 69-Jährige wurde Anfang des Monats wegen Veruntreuung zu sechs Jahren Haft verurteilt.

Sie macht aber keine Anstalten zurückzutreten, sondern beschimpft vielmehr die Justiz als „Mafia“. Auf der anderen Seite steht die Opposition mit Ex-Präsident Mauricio Macri, der für eine marktliberale und eher westlich orientierte Politik steht, während seiner Amtszeit aber auch einen höchst umstrittenen Milliardenkredit beim Internationalen Währungsfonds (IWF) aufnahm.

Die politische Auseinandersetzung geht dabei über das normale Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition weit hinaus. Es markiert vielmehr eine weltanschauliche Kluft. Man unterstellt dem politischen Gegner, mit kriminellen Machenschaften dem Land Schaden zuzufügen.

Kann der WM-Triumph das Land einen?

Ob Staatschef Alberto Fernández von den Minuten des Ruhms, gemeinsam mit Messi und dem WM-Pokal auf dem Balkon des Präsidentenpalastes zu stehen, nachhaltig profitieren kann, darf bezweifelt werden. Zu schwach scheint derzeit seine Position. Nur im Bündnis mit Kirchner, die weiterhin über eine treue Anhängerschaft verfügt, gelang er 2019 an die Macht.

Seit einiger Zeit herrscht Funkstille mit der mächtigen Frau, die formal seine Stellvertreterin ist. Sie verzieh ihm das Umschuldungsabkommen mit dem IWF nicht. Auch hatte sie das Bündnis mit Fernández einst in der Hoffnung geschmiedet, vor den eigenen Korruptionsprozessen besser geschützt zu sein.

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Nach ihrem Schuldspruch hat Kirchner nun angekündigt, bei den Wahlen im nächsten Jahren nicht noch einmal kandidieren zu wollen. Fernández’ eigene Machtbasis hingegen ist begrenzt, sodass eine aussichtsreiche Kandidatur schwierig scheint.

Eher eine fromme Hoffnung als eine konkrete Erwartung ist für Bleta, dass der Geist der Gemeinsamkeit langfristig in die argentinischen Politik einfließen könnte: Beispielsweise bei der Verständigung zur Entschuldung des Landes, einer Reform des Arbeitsrechts, einer Vertiefung des südamerikanischen Wirtschaftsbündnisses Mercosur sowie vor allem bei der Bekämpfung der Armut, von der rund 40 Prozent der Bevölkerung betroffen sind.

Verhalten optimistisch, dass der WM-Effekt nachhaltig auf das Land übertragen werden kann, gibt sich hingegen Cornelia Schmidt-Liermann. Die einstige deutschstämmige Kongressabgeordnete, die den ehemaligen Präsidenten Macri in deutschlandpolitischen Fragen beriet, meint: „Der WM-Triumph gibt uns Hoffnung, dass man doch wieder was schaffen kann: mit Arbeit und Leistung, ohne Improvisation.“ Die argentinische Mannschaft diene als Vorbild.

In diesen Tagen hält der Ausnahmezustand aber vorerst an: Erwartet wird, dass die Nationalmannschaft am Dienstag im Triumphzug vom internationalen Flughafen Ezeiza in Richtung Innenstadt von Buenos Aires fährt. Dann dürfte auch ein Empfang im Präsidentenpalast auf der geschichtsträchtigen Plaza de Mayo anstehen.

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