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Palästinensische Familien begutachten die Zerstörung in Gaza.

© Imago/Bashar Taleb

Apokalyptische Bilder aus Gaza: „Wohin? Wir sind obdach- und arbeitslos geworden“

Als Reaktion auf die Hamas-Gräueltaten fliegt Israels Armee Angriffe auf den Gazastreifen. Diese treiben Zehntausende Zivilisten in die Flucht. Und es droht noch schlimmer zu werden.

Die Gräueltaten der palästinensischen Terrororganisation Hamas sorgen für Leid und Wut in der israelischen Bevölkerung. Mehr als 1000 Israelis sind offiziellen Angaben zufolge getötet worden, Tausende weitere wurden verletzt oder verschleppt. Als Reaktion darauf fliegt die israelische Armee seit dem Wochenende Luftangriffe auf den Gazastreifen, wo die Hamas herrscht.

Dort ergibt sich seitdem ein ähnliches Bild, Bewohner schildern auch aus dem Gazastreifen Leid und Wut. Laut palästinensischen Angaben gibt es bisher mehr als 1000 Tote und tausende Verletzten, ein großer Teil davon Zivilisten.

Die israelische Armee bereitet die westlichen Unterstützer nicht ohne Grund auf „schwierige Szenen aus dem Gazastreifen“ vor, wenn sich die Kämpfe noch intensivieren werden. Das sagte Armeesprecher Jonathan Conricus in einem Video-Update am Mittwoch.

Auf Videoaufnahmen von Bewohnern, die dem Tagesspiegel vorliegen, ist das Ausmaß der Zerstörung in Gaza-Stadt zu erkennen. Nahezu apokalyptisch muten die Bilder von Balkons an, die zerbombte Häuser zeigen, die teils mittig durchgebrochen oder komplett dem Erdboden gleichgemacht sind. Überall steigt Rauch auf, die Straßen sind voll mit Trümmern.

Die Sperranlage um den Gazastreifen hat drei Übergänge: Erez im Norden, Kerem Schalom im Süden und Rafah in Richtung Ägypten.
Die Sperranlage um den Gazastreifen hat drei Übergänge: Erez im Norden, Kerem Schalom im Süden und Rafah in Richtung Ägypten.

© Grafik: Tsp/Bartel / Quelle: UN Ocha

Die, deren Wohnungen noch existieren, können ob der Beschädigungen nicht sicher sein, wie sicher es dort noch ist. Auf den Videoaufnahmen, die dem Tagesspiegel vorliegen, sind teils auch Decken eingestürzt.

Rushdi Abu Alouf, Korrespondent des britischen TV-Senders BBC berichtet, dass es im ansonsten ruhigsten und einkommensstärksten Stadtteil Rimal aussah wie nach einem heftigen Erdbeben. „In vergangenen Kriegen war dieser Teil der Stadt ein sicherer Hafen für Bewohner von Stadtteilen, die an Israel grenzen“, sagte ihm ein Bewohner. Das gelte nun nicht mehr.

Wo sollen wir hingegen? Wir sind obdach- und arbeitslos geworden.

Bewohner von Gaza-Stadt

Die Nacht auf Dienstag war Abu Alouf zufolge die härteste Nacht in den 20 Jahren, in denen er aus Gaza-Stadt berichtet. Manche Gebäude seien derart zerstört, dass er sie nicht mehr wiedererkenne. Alle Hauptstraßen im Zentrum seien durch Trümmer blockiert.

„Ich habe alles verloren: Meine Wohnung, wo ich mit meinen fünf Kindern gelebt habe und mein Supermarkt unten im Gebäude wurden zerstört“, sagte ein anderer Bewohner. „Wo sollen wir hingegen? Wir sind obdach- und arbeitslos geworden.“ Er sei wütend auf das israelische Militär, das angibt, keine zivilen Ziele anzuvisieren. „Sind mein Haus oder mein Supermarkt ein militärisches Ziel?, fragt der Bewohner Rimals.

Israels Armee wirft Hamas Missbrauch von Zivilisten vor

Armeesprecher Jonathan Conricus warf der Hamas vor, sämtliche ihrer militärischen Güter in zivilen Gebäuden unterzubringen. Diese Gebäude seien daher „legitime militärische Ziele“.

Der ehemalige israelische Armeesprecher Peter Lerner sagte zum BBC, dass das Ziel sei, die militärische Infrastruktur der Hamas im Gazastreifen zu zerstören. Sein Land habe sich die Situation nicht ausgesucht. „Die Terroristen verstecken sich in Gaza. Wir werden sie finden, um unsere Bürger zu retten“, erklärte Lerner.

Die israelische Armee griff am Mittwoch unter anderem die Universität in Gaza an. Sie sei ein „wichtiges operatives und militärisches Zentrum der Hamas-Terrororganisation“ gewesen. Die Universität sei von der Hamas als Trainingscamp für militärische Geheimdienstmitarbeiter sowie für die Entwicklung und Produktion von Waffen genutzt worden.

In Gaza sind ganze Straßenstriche zerstört.
In Gaza sind ganze Straßenstriche zerstört.

© dpa/Fatima Shbair

Die Journalistin Plestia Alaqad berichtet, dass sie mit einer israelischen Antwort auf die Angriffe der Hamas gerechnet hatte. „Aber, ehrlich, mit der Intensität? Damit hat niemand gerechnet.“

„Kein Ort ist sicher“, sagt Alagad, die laut eigenen Angaben innerhalb eines Tages dreimal wegen Bombenangriffen geflohen ist. Im Video erzählt sie, dass sie in ihrem Haus kaum mehr atmen konnte aufgrund des Staubs von zerstörten Häusern. Teilweise ist vor den Fensterscheiben nichts zu sehen, weil der Nebel so dicht ist.

Einziges Kraftwerk im Gazastreifen abgeschaltet

Als Reaktion auf den Terrorüberfall der islamistischen Hamas am Samstag mit mindestens 1200 Toten hatte Israel den Gazastreifen mit rund zwei Millionen Palästinensern abgeriegelt. Die humanitäre Situation im Gazastreifen war schon vorher sehr schwierig – auch aufgrund stundenlanger Stromausfälle. Nun gehen den Bewohnern in weiten Teilen des Gazastreifens Lebensmittel, Wasser und Strom aus.

Das einzige Kraftwerk im Gazastreifen ist nach Angaben der palästinensischen Elektrizitätsgesellschaft wegen Treibstoffmangels mittlerweile abgeschaltet worden. Das teilte das Unternehmen am Mittwoch mit.

Rauch über Gaza nach israelischem Beschuss
Rauch über Gaza nach israelischem Beschuss

© Imago/Hashem Zimmo

Können Sie sich vorstellen, ohne Strom zu leben, im 21. Jahrhundert? Mein Baby hat keine Windeln mehr und es hat nur noch eine halbe Flasche Milch“, berichtet ein Gaza-Bewohner.

Vor dem größten Supermarkt in Gaza bildeten sich am Dienstag lange Schlangen vor der Hintertür, weil die Bewohner so viele Lebensmittel mitnehmen wollten, wie nur geht. Denn aufgrund der zunehmenden Benzinknappheit ist unklar, wie lange und wie viel frisches Gemüse und Obst aus dem Süden des Gazastreifens noch in die Städte gebracht werden kann.

Auch in Krankenhäusern fehlt es nach palästinensischen Angaben am nötigsten. Alle Klinikbetten seien belegt, teilte das Gesundheitsministerium in Gaza am Mittwoch mit. Alle Medikamente seien aufgebraucht, die Vorräte an medizinischer Ausrüstung gingen zur Neige.

Keine Warnung – wie reagiert die Hamas?

Auch in anderen Teilen des Gazastreifens ist die Lage prekär. BBC sprach mit einem Bewohner der Stadt Chan Junis im Süden nahe der Grenze zu Ägypten, wo flüchtende Menschen unter beschossenen Gebäuden begraben worden sein sollen.

Am Mittwoch gab die palästinensische Seite bekannt, dass der Bruder des Hamas-Kommandeurs Mohammed Deif in Chan Junis bei einem israelischen Luftangriff getötet worden sein soll. Laut Angaben des Bewohners war es der erste Angriff auf Chan Junis seit Jahrzehnten. Weil der Ort als sicher galt, seien viele Menschen aus anderen Gebieten des Gazastreifens dorthin geflohen.

Es gibt keinen Zufluchtsort mehr, alle Schulen sind überfüllt.

Bewohner von Chan Junis

Es soll zuvor keine Warnung gegeben haben. Ein Hamas-Sprecher hatte damit gedroht, dass bei jedem Angriff ohne Warnung ein entführter Israeli vor laufender Kamera hingerichtet werde.

Sogar in Schutzkellern ist es gefährlich, weil die Gebäude darüber bei neuen Angriffen einbrechen könnten. Dem BBC zufolge waren in der Nacht auf Dienstag rund 30 Familien in Schutzkellern gefangen.

Die einzigen Zufluchtsorte sind seitdem UN-geführte Schulen. Mehr als 170.000 Menschen haben in diesen Schulen bereits Zuflucht gefunden. Die UN berichten, dass damit 90 Prozent der Kapazität erreicht ist. „Es gibt keinen Zufluchtsort mehr, alle Schulen sind überfüllt“, sagt der Bewohner von Chan Junis im Süden des Gazastreifens. Er berichtet, dass sein Bruder versucht habe, den Grenzübergang nach Ägypten zu passieren, als dieser von der israelischen Armee beschossen wurde.

Waren es vor dem Wochenende immerhin 400 Menschen, die pro Tag hinübergehen durften, ist der Übergang aufgrund der israelischen Luftangriffe auf ein Durchgangstor gestoppt. Es sei seitdem unmöglich, den Gazastreifen zu verlassen, berichtet der Palästinenser.

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