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Einen sogenannten Stinkefinger zeigt ein Autofahrer aus seinem Auto.

© Jens Büttner/dpa

Wenn Autofahrer austicken: So kämpfen Experten gegen die Aggression auf deutschen Straßen

Ausraster und illegale Autorennen: Der Deutsche Verkehrsgerichtstag in Goslar beschäftigt sich mit der zunehmenden Aggression im Verkehr.

November 2019, Kassel: Ein 37-jähriger Autofahrer verprügelt anscheinend grundlos einen 25-jährigen Fußgänger.

Mai 2019, Cottbus: Weil ein 14-Jähriger bei Rot die Straße überquert, rastet ein 24-jähriger Autofahrer aus und schlägt den Jugendlichen krankenhausreif.

März 2019, Berlin-Lichtenberg: Zwei Insassen eines Transporters attackieren einen 36-Jährigen mit Schlägen und Tritten, weil dieser sie zum Abbremsen gezwungen haben soll.

August 2018, Mannheim: Ein 33-jähriger Autofahrer fühlt sich auf einem Feldweg von vier Spaziergängern blockiert und drischt auf diese ein.

„Nimmt die Aggressivität auf der Straße zu?“, fragt sich besorgt auch der Deutsche Verkehrsgerichtstag (VGT). Von Mittwoch bis Freitag sucht das jährlich stattfindende Expertentreffen in Goslar nach Wegen, um Rowdytum und riskante Rasereien einzudämmen. Schärfere Sanktionen stünden dort dann ebenso zur Diskussion wie Tempolimits und Präventionsprogramme, kündigt die Kieler Oberstaatsanwältin und VGT-Vizepräsidentin Birgit Heß an.

Unbeteiligte zahlten mit ihrem Leben

Diskutiert wird dabei auch über den Umgang mit illegalen Autorennen wie auf dem Kurfürstendamm in Berlin im Februar 2016, rüpelhafte Rasereien wie die eines 24-jährigen Motorradfahrers im Juni 2016 in Bremen-Walle oder eines 20-jährigen Jaguar-Fahrers im März 2019 in Stuttgart. In allen drei Beispielen zahlten Unbeteiligte den Temporausch mit ihrem Leben.

Auch lebensgefährliche Fluchten vor der Polizei bestimmen immer öfter die Schlagzeilen. Im Landkreis Hildesheim lieferte sich Anfang Januar ein 56-Jähriger mit neun Streifenwagen eine Verfolgungsjagd, donnerte mit Tempo 180 durch mehrere Ortschaften, bis er in eine Sackgasse. Ähnlich schnell versuchte vor wenigen Tagen ein 60-jähriger Berliner in Bayern, sich einer Polizeikontrolle zu entziehen. Nach 120 Kilometern war in Wörth an der Isar Schluss, als der Mann mit einem Einsatzfahrzeug kollidierte.

90 Prozent beklagen die zunehmende Aggressivität

Wildwest auf deutschen Straßen? In einer Allensbach-Umfrage vom September beklagen 90 Prozent der befragten 30- bis 59-Jährigen eine zunehmende Aggressivität im Verkehr. Es gilt scheinbar die Devise „Platz da, jetzt komm' ich“.

Ausraster an der Ampel, Hupe und Mittelfinger als Racheakte, Tritte gegen Autotüren als Strafinstrument sowie Gasgeben trotz oder gerade wegen Fußgängern in Sichtweite gehören mittlerweile – zumindest gefühlt – zum Alltag auf Autobahnen und in den Innenstädten. Geeignete objektive Indikatoren für ein raueres Verkehrsklima fehlen aber, gibt die Bundesanstalt für Straßenwesen zu bedenken.

Experten beklagen Verlust von Hemmschwellen

„Ohne Sozialregeln wie Rücksicht und Vorsicht funktioniert der Straßenverkehr nicht“, mahnt Ernst Klein, Erster Polizeihauptkommissar in Köln und Referent in Goslar. Gleichzeitig beklagt er aber eine „schleichende Entsozialisierung“, einen Zusammenbruch von Hemmschwellen, etwa wenn vorbeifahrende Gaffer Umfallopfer mit ihren Handys filmten oder junge Raser Videos ihrer illegalen Rennen im Netz verbreiteten.

Mit „Crash-Kursen“ an Schulen, bei denen Eltern eindringlich von ihren tödlich verunglückten Kindern oder Feuerwehrleute von letzten Worten eines eingeklemmten Unfallopfers berichten, versucht die Polizei in Nordrhein-Westfalen seit einigen Jahren entgegenzusteuern. „Wir machen den jungen Leuten klar, dass sie es sind, die solche Dramen verhindern können“, sagt Klein.

Das Auto als "legale Waffe"

„Aggressionen entstehen immer dort, wo Reviere kleiner werden“, sagt Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherungen (UDV). Mit seinem Auto verfüge jeder Verkehrsteilnehmer über eine „legale Waffe“, umso wichtiger sei Selbstdisziplin.

Einschlägige Delikte, auch wenn Aggressionen als Auslöser nicht leicht nachzuweisen seien, sollte man mit höheren Punkten in der Flensburger Verkehrssünderkartei belegen, schlägt er vor. „Das wäre ein Instrument, um die gefährlichen Mehrfachtäter langfristig auszusortieren.“

Die Rechtslage ist kompliziert

Illegale Autorennen hat der Gesetzgeber Ende 2017 mit dem Paragrafen 315d des Strafgesetzbuchs explizit unter Strafe gestellt und in Paragraf 315f auch das Einkassieren der beteiligten Fahrzeuge angeordnet. „Den Tätern werden ihre Spielzeuge weggenommen“, sagt der Nürnberger Strafverteidiger Philipp Schulz-Merkel.

Doch es gibt Probleme in der Praxis, denen sich der Verkehrsgerichtstag annehmen will: Fallen nach dem Wortlaut der Vorschrift auch Raser, die „ein Rennen gegen sich selbst“ führen, oder die Flucht vor der Polizei darunter? „Das ist brutal kompliziert“, meint der Fachanwalt für Verkehrsrecht. Im vergangenen Juli hat das Oberlandesgericht Stuttgart per Beschluss entschieden, dass auch die Flucht vor Streifenwagen den Tatbestand des illegalen Autorennens erfüllen könne.

Lebenslange Haftstrafe für tödliche Raserei

Überhaupt reagieren die Gerichte bei den krassen Fällen inzwischen mit harten Sanktionen, scheuen auch vor Höchststrafen nicht zurück. Die beiden Todesrennfahrer vom Berliner Kudamm wurden im vergangenen März vom Landgericht wegen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Der Stuttgarter Jaguar-Raser erhielt fünf Jahre Jugendstrafe.

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