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Im türkischen Giresun posieren Touristen vor der Insel der Amazonen.

© Jens Mühling

Reise ums Schwarze Meer: Europas andere Küste

Silbrig glänzt es in Russland, grün scheint es in der Türkei, bleiern in Rumänien. 4500 Kilometer Küstenlinie – und Nachbarn, die voneinander das Schlimmste erwarten.

Sie kamen uns entgegen, als wir die letzten Kilometer auf dem Weg zum Ararat zurücklegten, im Bergland Ostanatoliens, wo zwischen endlosen Geröllfeldern die Türkei an Armenien und den Iran grenzt.

In kleinen Gruppen liefen sie am Straßenrand entlang, Männer, die meisten jung, mit dunklen Bärten und nichts in den Händen, nur wenige trugen kleine Plastiktüten.

Es war März, an den gewundenen Passstraßen lag noch Schnee, und ich fragte mich, wie schnell man wohl marschieren musste, um in den leichten Jacken der Männer nicht zu frieren.

Mustafa, der Fahrer, in dessen Taxi ich in Agri eingestiegen war, weil der nächste Bus nach Dogubeyazit erst einen Tag später gefahren wäre, deutete mit dem Kinn auf die Wanderer hinter der Windschutzscheibe.

„Pasaport yok, para yok.“

Kein Pass, kein Geld.

Fragend sah ich ihn an.

„Syrians?“

Er schüttelte den Kopf.

„Afganlar."

Sie mussten durch den Iran in die Türkei gekommen sein, dachte ich. Mustafa nickte, als habe er meine Gedanken erraten.

„Afghanistan – Iran – Istanbul.“

Einen Moment lang schwieg er, dann spreizte ein Grinsen seinen Schnauzbart.

„Istanbul – Almanya!“

Der Schnauzbart erstarrte zu einer harten Linie, als ich versuchte, Mustafa zum Anhalten zu überreden.

Ich wollte mit den Flüchtlingen sprechen, sie fragen, was sie brauchten, auch wenn ich es ihnen vermutlich nicht geben konnte.

Vergiss es, sagte Mustafas versteinerter Schnauzbart, nicht für alle Lira der Welt.

Stumme Ratlosigkeit

Wir fuhren weiter, dem Berg Ararat entgegen, den ein altes Rätsel mit dem Schwarzen Meer verbindet. Immer wieder tauchten Männer hinter den Wegbiegungen auf, zu zweit, zu fünft, dann lange niemand, dann plötzlich ein Dutzend, gefolgt von einem zweiten – und einen Moment lang war ich sicher, dass die Straße hinter der nächsten Biegung schwarz vor Menschen sein würde. Doch dann kam wieder lange niemand.

Jedes Mal, wenn sich eine der verlorenen Männergruppen aus der Ferne näherte, löste Mustafa kurz die Hände vom Lenkrad, kehrte ihre Innenflächen gen Himmel und schüttelte in stummer Ratlosigkeit den Kopf, als frage er sich, und mich, und vielleicht Gott, was man bloß anfangen soll mit all diesen Menschen, die nicht bleiben können, wo sie sind.

Am Ararat erinnert ein Bergabdruck an die Arche Noah.
Am Ararat erinnert ein Bergabdruck an die Arche Noah.

© Jens Mühling

Ich habe das Schwarze Meer von allen Seiten gesehen, und von keiner Seite war es schwarz.

Es war silbrig, als ich im Frühling die noch menschenleeren Strände der russischen Kaukasusküste entlangfuhr, silbrig wie die Haut der Delfine, die dicht am Ufer den nordwärts ziehenden Fischschwärmen folgten.

Es wurde blau, als ich im Mai Georgien erreichte, das alte Kolchis der griechischen Sagenwelt, wo die Strände schwarz sind, aber nicht das Wasser.

In der Türkei schien es dem Grün der Teeplantagen und Haselnussfelder an seinen Ufern ähnlicher zu werden, und grün blieb es, bis ich im Spätsommer den Bosporus erreichte.

Schmutzgraues Eis in der Ukraine

Die ersten Herbststürme färbten es braun, als über der Küste Bulgariens die Vögel südwärts und die Touristen heimwärts zogen.

Im rumänischen Donaudelta schien der Himmel so tief über dem Meer zu hängen, dass sein bleierner Ton auf das Wasser abfärbte.

Als ich die Ukraine erreichte, schoben die Wellen schmutzgraues Eis über die Strände.

Erst auf der Krim hellte die Wintersonne das Meer wieder auf, und hier nahm es den Ton an, den es in meiner Erinnerung immer haben wird: ein trübes, milchiges Grün, wie ein Sud aus Algen und Sonnencreme.

In Abchasien spielt ein Vater mit seinem Jungen.
In Abchasien spielt ein Vater mit seinem Jungen.

© Jens Mühling

Meine Reise führte im Kreis, aber das Schwarze Meer ist so wenig rund, wie es schwarz ist. Die Geografen der Antike verglichen die Form seiner viereinhalbtausend Kilometer langen Küstenlinie mit der eines skythischen Reiterbogens.

Die Sehne spannt sich entlang des südlichen, heute türkischen Ufers, dessen Gestalt den damals noch hier siedelnden Griechen gradliniger und sehnenförmiger vorkam, als sie es tatsächlich ist. Links und rechts der Türkei krümmen sich die Endstücke des Bogens hart nach Norden und dann sanfter einander entgegen, im Westen vorbei an den Stränden Bulgariens und Rumäniens, im Osten an der georgischen und russischen Küste.

Ein Meer wie ein Pferdekopf

Der Bogen schließt sich in der Ukraine, an deren Südufer wie die geballte Faust eines Schützen die Krim hängt. Der imaginäre Pfeil, den diese Waffe nordwärts schleudert, zielt ziemlich genau auf Moskau, was in der Antike allerdings niemand ahnen konnte. Als die Moskowiter in der Weltgeschichte auftauchten, waren die Skythen längst aus ihr verschwunden.

Mich selbst haben die Umrisse des Meers, wenn ich seine Konturen mit dem Finger auf der Karte entlangfuhr, immer an einen Pferdekopf erinnert. Rechts schnuppert die Pferdeschnauze an Georgien, beiderseits der Krim ragen zwei spitze Pferdeohren in die Ukraine und nach Russland.

Das nordöstliche Ohr ist das Asowsche Meer, eines von zwei Nebengewässern des Schwarzen Meers. Von hier aus, über den Zufluss des Don, drang im 18. Jahrhundert das russische Zarenreich an die Meeresküsten vor.

Suche nach dem Goldenen Vlies

Das traditionsreichere Eingangsportal – und gleichzeitig der Hals, auf dem der Pferdekopf sitzt – ist der südwestliche Bosporus, die Verbindung zum Marmarameer, zur Ägäis und zur Mittelmeerwelt des Altertums.

Von hier aus sollen einst Jason und die Argonauten ins Schwarze Meer gelangt sein, auf der Suche nach dem Goldenen Vlies, die sie entlang der Südküste bis ins heutige Georgien und über den Umweg der Donau zurück in ihre griechische Heimat führte.

Die Argo-Sage ist eine bronzezeitliche Legende, aber sie lehnt sich an die tatsächliche Entdeckung des Schwarzen Meers durch griechische Seefahrer des Altertums an, deren Schiffe möglicherweise schon im zweiten, spätestens aber zu Beginn des ersten vorchristlichen Jahrtausends durch die Dardanellen und den Bosporus vorstießen.

Was sie dahinter vorfanden, stilisierten Generationen griechischer Dichter und Denker später zum gefahrenumwitterten Rand der bekannten Welt, besiedelt von den aberwitzigsten Völkerscharen und Fabelwesen: Kannibalen, Höllenhunde, männermordende Amazonen, auf Kranichen reitende Zwerge, Zyklopen, Läusefresser, Werwölfe.

Moderne Architektur an den Stränden von Anaklia.
Moderne Architektur an den Stränden von Anaklia.

© Jens Mühling

Auch die realen Bewohner der antiken Schwarzmeerküsten kamen in der griechischen Literatur nicht gut weg. Es waren Reitervölker wie die Skythen, deren Sprachen in den Ohren der Griechen wie sinnloses Gebrabbel klangen – sie schienen nur „bar bar bar“ zu sagen, weshalb ihnen bald der Name „Barbaren“ anhing.

Unter diesem Sammelbegriff wanderten die Nomaden in die griechische Psyche ein – und wurden dort sesshaft. Vertraut man der hellenischen Literatur, verkörperten sie für die Griechen all das, was sie selbst nicht sein wollten, was ihre Zivilisation bedrohte, was sie hassten, fürchteten und verachteten.

Wer an dieser Abneigung schuld war und inwiefern sie auf Gegenseitigkeit beruhte, ist im Nachhinein schwer zu sagen, weil nur eine Seite der Geschichte überliefert ist: Die Barbaren haben nicht aufgeschrieben, was sie von den Griechen hielten.

Die Ungewaschenen und Blutrünstigen

Als später aus den Scherben der Antike das Selbstbild eines ganzen Kontinents zusammengesetzt wurde, verinnerlichten die Europäer zusammen mit allem anderen griechischen Kulturgut auch die Erzählung von den Barbaren, die ihnen bis heute als Mythos der äußeren Abgrenzung dient: hier die Zivilisierten, dort die Barbaren – hier unseresgleichen, dort die anderen, die Fremden, Zurückgebliebenen, Ungewaschenen, die mit dem komischen Essen, die ihre Kinder nicht im Griff und ihre Frauen nicht unter Kontrolle haben, die Grausamen, die Blutrünstigen, die Menschenfresser, die Ungläubigen, die Minderwertigen, die Sklavennaturen, die Untermenschen.

Bezeichnenderweise entstand dieses Bild des Barbaren ursprünglich gar nicht an der Schwarzmeerküste selbst, wo die griechischen Seefahrer ab dem achten vorchristlichen Jahrhundert Handelsstädte gründeten und mit den Nomadenvölkern des Hinterlands in enger Symbiose lebten – hier nahmen jene kuriosen ethnischen Mischgesellschaften ihren Anfang, die das Schwarze Meer jahrtausendelang prägen sollten.

Starke Meinungen zu Menschen ohne festen Wohnsitz

Zu Zivilisationsfeinden wurden die Barbaren vielmehr von Athener Intellektuellen erklärt, die das Schwarze Meer nur vom Hörensagen kannten und auch sonst selten einen Fuß vor die Säulengänge ihrer Akademien setzten, aber vielleicht gerade deshalb starke Meinungen zu Menschen ohne festen Wohnsitz hatten.

Es war nicht das erste Mal in der Weltgeschichte, dass sesshafte Völker wie die Griechen mit Nomaden wie den Skythen in Berührung kamen. Neu war, dass aus ihrem Zusammentreffen Literatur wurde – und aus der Literatur das Selbstbild eines Kontinents.

„Mit dieser speziellen Begegnung“, schreibt der weise Schwarzmeerchronist Neal Ascherson, „nahm die Idee Europas ihren Lauf, mit all ihrer Arroganz, allen ihren Implikationen von Überlegenheit, ihren Anmaßungen von Priorität und Antiquität, ihrem Anspruch auf ein natürliches Recht der Dominanz.“

Wer einmal versucht hat, in der Form des Schwarzen Meers den drohenden Skythenbogen zu erkennen, den die Griechen in ihm sahen, wird das Bild nur schwer wieder aus dem Kopf bekommen.

Ein Mann im rumänischen Donaudelta.
Ein Mann im rumänischen Donaudelta.

© Jens Mühling

Sechs Anrainerländer hat das Schwarze Meer. Es sind, im Uhrzeigersinn und in der Reihenfolge meiner Reise: Russland, Georgien, die Türkei, Bulgarien, Rumänien, die Ukraine.

Sechseinhalb sind es, wenn man Abchasien mitzählt, einen abtrünnigen Teil Georgiens, der von Russland am Leben gehalten wird, damit sich Georgien keinen westlichen Bündnissen anschließen kann.

Sieben, wenn man Moldawien mitzählt, das alte Bessarabien, dem im Zweiten Weltkrieg die Küste abhanden kam, als Stalin die Landesgrenze landeinwärts verschob.

Siebeneinhalb, wenn man Transnistrien mitzählt, einen abtrünnigen Teil Moldawiens, der von Russland am Leben gehalten wird, damit sich Moldawien keinen westlichen Bündnissen anschließen kann.

Acht, wenn man Polen mitzählt, das alte Polen zum Zeitpunkt seiner größten Ausdehnung, als sich der Szlachta-Adel einredete, die Oberschicht des Landes stamme vom antiken Barbarenvolk der Sarmaten ab.

Achteinhalb, wenn man die Volksrepublik Donezk mitzählt, einen abtrünnigen Teil der Ukraine, der – Sie wissen schon.

Achteinhalb, wenn die Krim zur Ukraine gehört. Achteinhalb, wenn die Krim zu Russland gehört. Neun, wenn man die Krim lieber für sich stehen lässt.

Neuneinhalb, wenn man das antike Ruinenreich der Griechen mitzählt, dessen Spuren mir an allen Meeresküsten begegneten, in Form verwitterter Steine, fremdsprachig überformter Ortsnamen, Familiengeschichten versprengter Schwarzmeergriechen, in den kyrillisch, lateinisch und georgisch buchstabierten Speisekarten ungezählter Aphrodite-Restaurants, Poseidon-Cafés, Olymp-Hotels und Amazonen-Bars – und in der tief verinnerlichten Schwarzmeertradition, von seinen Nachbarn stets das Schlimmste zu erwarten.

In Sotschi unvergessen: Russlands Übervater Lenin.
In Sotschi unvergessen: Russlands Übervater Lenin.

© Jens Mühling

Wo anfangen? Nachdem ich mit dem Finger auf der Karte lange ratlos das Meer umkreist hatte, entschied ich mich für einen Punkt, der fernab der Küste liegt, aber vieles über die Ursprünge des Schwarzen Meers erzählt. So landete ich an einem Märztag auf einer verschneiten Bergstraße, wo mir Menschen ohne Geld und ohne Pass entgegenliefen.

Angekommen in Dogubeyazit sah ich Frauen, deren bodenlange Gewänder im anatolischen Staub schleiften. Kurdische Männer warfen ihnen Blicke hinterher, die mich an ausgehungerte Wölfe denken ließen.

Ich sah fliegenumschwirrte Kuhköpfe in den Schaufenstern der Metzgereien, ich sah klickernde Gebetsketten in den Händen der Teetrinker, und überall, am Ende jeder Straße und über jedem Hausdach, sah ich den Ararat. Der Berg schwebte über der Stadt wie ein perspektivisches Trugbild. Wäre er eine Filmkulisse, man müsste ihn schrumpfen, um ihn glaubwürdiger zu machen.

Ararat und Cudi

Ich checkte im Hotel Nuh ein, benannt nach dem berühmten Seefahrer, der hier einst mit seinem Schiff gestrandet sein soll: Noah, Admiral der Arche. Der Inhaber war ein weißhaariger Kurde namens Jakub, der nicht nur dem Hotel, sondern auch einem seiner Söhne den Namen Nuh gegeben hatte.

Der Nuh des Korans landet mit seinem Schiff zwar nicht auf dem Ararat, sondern auf dem Cudi, einem Berg im syrisch-irakischen Grenzland der Türkei. Aber die christlichen Arche-Touristen, die Jakub den Lebensabend und seinem Sohn das Studium in Istanbul finanzierten, kamen nun mal hierher, zum Ararat.

Zugang seit zwei Jahren gesperrt

Bis vor zwei Jahren hatten sie das jedenfalls getan. Dann war das passiert, was mir am nächsten Morgen Cervat erklärte, der Fahrer, der mich zum Fuß des Bergs brachte.

„Bum!“

Er legte ein unsichtbares Gewehr an die Wange und feuerte in Richtung des wolkenumwaberten Gipfels.

„Bum! PKK! Bum!“

Wegen angeblicher Terrorgefahr hielt die Armee seit zwei Jahren den Zugang zum Ararat gesperrt.

Mehr als 300 Kilometer trennen den Berg von der nächstgelegenen Küste, der des Schwarzen Meers. Ich versuchte, den Ararat vor meinem inneren Auge im steigenden Wasser der Sintflut zu versenken. Es war nicht leicht.

Und doch steckt in der Flutlegende ein Kern, der den Berg mit dem Schwarzen Meer verbindet – einem Meer, das nicht nur nicht schwarz ist, sondern auch nicht immer ein Meer war.

In den frühen Stadien seiner Entwicklung, lange bevor an seinen Ufern Menschen auftauchten, die darüber streiten konnten, wo die innere Grenze des siamesischen Zwillingskontinents Eurasien verläuft, verschob sich das Gewässer parallel zu den knirschenden Tanzschritten der beiden Erdteile.

Im Lauf dieses Jahrmillionentangos verband es sich mal mit dem Kaspischen Meer, mal mit dem Mittelmeer, mal verwandelte es sich in einen landumschlossenen Binnensee ohne Zugang zu den umliegenden Gewässern.

In welchem Zustand es aus der letzten Eiszeit in die jüngere Vergangenheit driftete, lässt sich am Meeresgrund ablesen. Etwa 150 Meter unter der Wasseroberfläche sind dort die Konturen eines älteren Sees erkennbar, der deutlich kleiner und flacher gewesen sein muss als das heutige Meer.

Kleinerer See, großes Meer

Als Forscher diese Bodenstruktur Ende des 20. Jahrhunderts entdeckten, stießen sie innerhalb der alten Seeuferlinie auf Überreste von Süßwasserorganismen.

In den höhergelegenen Bodenschichten fanden sie dagegen nur Ablagerungen meerestypischer Lebewesen. So weit, so erwartbar: Aus einem kleineren See war im Lauf der Jahrtausende ein größeres Meer geworden.

Die Forscher staunten erst, als sie feststellten, dass es zwischen den beiden Sedimentzonen keinen nennenswerten Übergangsbereich gab. Es schien, als habe sich der See vergleichsweise plötzlich mit großen Massen von Salzwasser gefüllt, die sein Ökosystem innerhalb kürzester Zeit umkrempelten.

Und noch ein Übervater: ein Graffito mit Wladimir Putin auf der Krim.
Und noch ein Übervater: ein Graffito mit Wladimir Putin auf der Krim.

© Jens Mühling

Wann war das geschehen – und warum? Die Forscher ließen die Lebensspuren datieren, auf die sie rund um die Seeuferlinie gestoßen waren. Sie stellten fest, dass der Umschwung vor nicht einmal 8000 Jahren stattgefunden haben musste, im sechsten vorchristlichen Jahrtausend, zu einer Zeit, als der Wasserspiegel des versunkenen Sees deutlich tiefer gelegen hatte als der des nahen Mittelmeers.

Beide Gewässer trennte damals wie heute nur eine schmale Landbrücke: der Übergang zwischen der Balkanhalbinsel und der Türkei. In den Köpfen der Forscher setzte sich ein dramatischer Film in Gang.

Ein Durchbruch in der Landbrücke

Als sich in der ausgehenden Eiszeit die Ozeane mit Schmelzwasser füllten, stieg auch der Pegel des Mittelmeers – so weit, dass seine Wassermassen irgendwann ihr Becken sprengten, die Balkan-Landbrücke überfluteten und in das nördlich dahinter gelegene Tal strömten.

Beschleunigt wurde der Prozess, als der Druck des nachfließenden Wassers Erdreich und Felsen beiseite pflügte und einen Durchbruch in die Landbrücke riss: den heutigen Bosporus.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt dürfte das Mittelmeerwasser mit einer solchen Gewalt ins Schwarzmeerbecken gestürzt sein, dass es den Seespiegel täglich um bis zu 15 Zentimeter steigen ließ. In die Horizontale übertragen bedeutet das, dass sich in den flacheren Küstengebieten die Uferlinie pro Tag um mehr als einen Kilometer landeinwärts fraß.

Telefonzelle im türkischen Samsun.
Telefonzelle im türkischen Samsun.

© Jens Mühling

Die Menschen, die in jenen dunklen Tagen an den Seeufern siedelten, müssen den sprichwörtlichen Untergang ihrer Welt wie eine unbegreifliche, jede Vorstellung sprengende Katastrophe erlebt haben. Was hatte ihre Götter nur so erzürnt?

Während sie verzweifelt versuchten, sich selbst und ihr Vieh in höher gelegene Gegenden zu retten, dürften sie die ersten Erklärungsversuche entwickelt haben, aus denen im Lauf der Jahrzehnte Schuldzuweisungen, Sühneschwüre, Selbstgeißelungen und religiöse Legenden wurden.

Ein Epos für die Menschheit

Noch Generationen später, als sie längst fern der Heimat ihrer Vorväter ein neues Leben angefangen hatten, müssen die Menschen raunend von der großen Flut erzählt haben, die allem Vorherigen ein Ende gesetzt und allem Künftigen den Anfang gegeben hatte.

Als die Lagerfeuererzählungen in späteren Jahrtausenden aufgeschrieben wurden, entstand rund um das Schwarze Meer eine Flut an Flutliteratur. Im Alten Testament endet der Exodus der Menschen und Tiere auf dem Ararat, im Koran auf dem Cudi.

Beide Versionen ähneln dem Gilgamesch- und dem älteren Atrahasis-Epos der Sumerer, in denen das rettende Schiff auf dem Nisir landet, einem Berg im kurdischen Teil des heutigen Iraks.

Griechische Ähnlichkeit

Bekannt war die Flutlegende auch den Griechen des Altertums, die sie direkt mit dem Schwarzen Meer in Verbindung brachten, wenn auch in einer umgekehrten Version.

Der Geschichtsschreiber Diodor ließ sich im ersten vorchristlichen Jahrhundert von den Bewohnern der Ägäis-Insel Samothraki erzählen, dass das Schwarze Meer in dunkler Vorzeit seine Ufer gesprengt und durch den Bosporus strömend ihr Eiland überflutet habe. Auch Strabo berichtet in seiner Geographie, dass die Flüsse, die ins Schwarze Meer münden, das Gewässer einst zum Überlaufen brachten.

Jens Mühling hat 4500 Kilometer Schwarzmeerküste bereist.
Jens Mühling hat 4500 Kilometer Schwarzmeerküste bereist.

© Jens Mühling

Steckt hinter all diesen Geschichten eine reale Naturkatastrophe, der das Schwarze Meer seine heutige Gestalt verdankt? Die Sintflut-Hypothese ist, wie ihr Name sagt, eine Hypothese, die unter Erd- und Meereskundlern ihre Anhänger und Kritiker hat. Aber wenn es ein Meer gibt, dessen Entstehungsgeschichte zu den Flutlegenden passt, dann ist es das Schwarze.

Wir ließen den Fuß des Ararats hinter uns und fuhren südwärts. Cervat wollte mir eine Stelle in den Bergen zeigen, wo vor ein paar Jahrzehnten einer der zahllosen christlichen Arche-Sucher eine vielversprechende Spur entdeckt haben wollte.

Ein dunkler Abdruck im Fels

Ein paar Kilometer vor der iranischen Grenze bogen wir von der Landstraße in einen Feldweg ab, der sich zwischen rötlichen Felsen bergauf schlängelte. Nach einer Viertelstunde hielt Cervat das Auto an.

Wir stiegen aus und sahen vor uns ein lang gezogenes, menschenleeres Tal. Die staubige Erde war mit Geröll übersät und wirkte so nachhaltig ausgetrocknet, als habe es hier seit der Sintflut nicht mehr geregnet.

Cervat deutete auf den gegenüberliegenden Berghang. Im Fels zeichnete sich ein Abdruck ab, ein dunkler Fleck im Gestein.

„Nuh’un gemisi“, sagte Cervat feierlich. Noahs Arche.

Der Abdruck war vielleicht 100 Meter lang und ein Drittel so breit. Er lief an beiden Enden spitz zu und erinnerte an die Form eines Schiffsrumpfs. Mit etwas weniger Fantasie erinnerte er an die Form eines türkischen Pide-Brots.

Schweigend starrten wir in die Ferne. Wie aus dem Nichts tauchten plötzlich zwei barfüßige Jungen auf, deren neugierige Blicke zwischen mir, Cervat und dem Felsabdruck hin und her sprangen. Ich fragte mich, wo sie herkamen, wo sie wohnten, was sie hier taten, aber wir hatten keine gemeinsame Sprache.

„Nuh’un gemisi?“, fragte ich, auf den Felsabdruck deutend.

Die beiden nickten stumm, als hätten sie nicht den geringsten Zweifel daran, dass in dieser meeresfernen Berglandschaft einst ein Schiff gestrandet war.

Gestalten im Krebsgang

Ich starrte den Felsabdruck an und versuchte, den Film rückwärts laufen zu lassen. Staub fügte sich zu verwittertem Holz, Balken richteten sich auf, formten Rippen, ein Rückgrat, ein Schiff.

Gestalten wankten im Krebsgang aus den Bergen herbei, halb verhungert und irren Blickes, die Menschen kaum zu unterscheiden von den Tieren. Wasser kroch aus dem Tal, hob das gefüllte Schiff von den Felsen, trieb es nordwärts, weiter und weiter, durch ein endloses Meer voller Treibgut und Leichen.

Dann sank der Pegel, das Meer schrumpfte, zog sich zusammen, versickerte, bis es nur noch die Größe eines Tals hatte. Die Arche setzte auf, heraus kroch Noah. Er trieb die Tiere an Land, zerlegte das Schiff in seine Einzelteile, atmete tief durch und ließ sich als Viehhirte am Seeufer nieder.

Dies ist ein Vorabdruck aus "Schwere See", erschienen bei Rowohlt. Die Premierenlesung findet am 10. März in der Buchhandlung Braun & Hassenpflug (Fischerhüttenstr. 79, Zehlendorf) statt, Beginn 20 Uhr.

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