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Die Halbinsel Krim hat eine wechselvolle Geschichte erlebt.

© AFP

Die Krim und der Krieg: Krims Märchen

Wer einen Kriegsgrund braucht, wird auf der Krim leicht fündig. Schon viele Nationen hatten Annexionsgelüste und brachten jeweils andere historische Gründe dafür hervor. Und so kam es, dass die Halbinsel seit jeher ein Spielball der Mächte ist.

Wer einen Kriegsgrund braucht, wird auf der Krim leicht fündig. Wladimir Putin macht es derzeit vor: Folgt man der Logik des Kremlchefs, dienen seine geostrategischen Drohgebärden lediglich dem Schutz der russischen Halbinselbewohner. Man darf das bezweifeln, aber die Argumentation entspricht einer historischen Linie, die auf der Krim jahrtausendelange Tradition hat. Mit ihrer unübersichtlichen Besiedlungsgeschichte, dem Fehlen einer Urbevölkerung und den daraus resultierenden Dauerkonflikten gehörte die Krim nämlich schon immer „niemandem und allen“, wie es Historiker des 19. Jahrhunderts gerne formulierten.

Hitler zum Beispiel: Als die Wehrmacht 1942 die Südukraine einnahm, baldowerten findige Rassentheoretiker flugs einen Annektierungsgrund aus. Eigentlich, argumentierten sie, sei die Krim schon immer deutsch gewesen – schließlich hatten hier einst die Krimgoten gelebt, Nachkommen der wanderungsfreudigen Ostgoten, die im dritten nachchristlichen Jahrhundert an die Schwarzmeerküste gelangt waren. Nun hatte man die Krimgoten 1942 zwar schon etwas länger nicht mehr auf der Krim gesehen, und die Schwarzmeerdeutschen, die Hitlers Rassenkundler kurzerhand zu gotischen Nachfahren erklärten, waren in Wirklichkeit landsuchende Bauern aus Schwaben, die erst unter Zar Alexander I. auf der nunmehr russischen Krim angesiedelt wurden.

Schon in der Antike ein umkämpftes Niemandsland

Dennoch befand sich auch Hitler mit seinen Annexionsargumenten in guter historischer Gesellschaft – oder in schlechter, je nach Blickwinkel. Er war weder der erste noch der letzte Geostratege, der seine Eroberungen mit dem ethnischen Wirrwarr auf der Krim rechtfertigte. Man darf gar nicht darüber nachdenken, wer nach dieser Geschichtslogik heute alles Ansprüche auf die Halbinsel im Schwarzen Meer erheben könnte: Russen, Ukrainer, aber auch die weitläufige zentralasiatische Verwandtschaft der Tataren, Türken, Griechen – und mit etwas Fantasie auch Italiener, Polen, Litauer.

Ganz zu schweigen von all jenen fantasiebegabten Nationen wie den Deutschen, die im Lauf der Jahrhunderte versuchten, sich Verwandtschaftsverhältnisse zu den halb mythischen Krimvölkern der Antike zu erdichten, den Skythen, den Sarmaten, den Kimmerern, Kyptschaken oder Tauriern.

Der britische Historiker und Journalist Neal Ascherson hat in den 90er Jahren ein wunderbares Buch über die Schwarzmeerregion geschrieben. „Black Sea“ heißt es, und Ascherson setzt sich darin mit dem Versuch auseinander, europäische Nationalmythen durch Feindbilder zu begründen. Dass die Krim in seinem Buch eine zentrale Rolle spielt, ist kein Zufall: Schon seit der Antike lag die Schwarzmeerhalbinsel im umkämpften Niemandsland zwischen konkurrierenden Weltreichen. Die Griechen etwa, die ihr Selbstbild in Abgrenzung zu den nicht griechischsprachigen „Barbaren“ der umliegenden Reiche definierten, dehnten ihre Herrschaft um das fünfte Jahrhundert vor Christus auf die Krim aus. Was als Handelsmission mit den damals skythischen Bewohnern der Halbinsel begann, wuchs sich bald zum kolonialen Projekt aus. Griechische Siedlungen entstanden an der Meeresküste, deren Überreste heute noch in der Nähe von Sewastopol zu sehen sind, in der beeindruckenden Ruinenstadt Chersones.

Großmachtkampf. Britische Soldaten während des Krimkriegs in Simferopol, 1855. Darunter William Howard Russell, der als erster moderner Kriegsreporter Frontberichte nach London kabelte.

© Robert Fenton/IMAGO

Bald wurden die Koloniestädte zum „Bosporanischen Reich“, das mit dem Machtverlust der Griechen unter den Einfluss Roms geriet. Auch im Bewusstsein der Römer blieb die nördliche Schwarzmeerküste eine Gefahrenzone, ein Ort des Fremden und der Barbarei, den nicht sesshafte, sondern berittene Nomadenvölker dominierten. Eben diese überrannten in den folgenden Jahrhunderten in immer neuen Wellen Europa, und alle ließen sie sich vorübergehend auf der Krim nieder: Goten, Hunnen, Chasaren, Kumanen, schließlich die Tataren, die am längsten auf der Halbinsel ausharrten. Noch lange nach der Befreiung Russlands vom „Tatarenjoch“ überlebte weit westlich des mongolischen Herrschaftsbereichs das Khanat der Krimtataren, von dem bis heute surenverzierte Khanspaläste in der einstigen Krimhauptstadt Bachtschyssaraj zeugen.

Vom Ringen gegen das Osmanische Reich bis zum Krimkrieg

Diente die Schwarzmeerküste bis ins Mittelalter vor allem Westeuropäern als Stätte der Barbarei, die zum Beweis der eigenen Zivilisiertheit herangezogen wurde, so war es nun das russische Zarenreich, das sich in furchtsamer Abgrenzung zu den Reitervölkern der Krim als sesshafter Zivilisationshort verstehen durfte. Es kam Moskau höchst gelegen, dass im 18. Jahrhundert das Osmanische Reich zu schwächeln begann, unter dessen Herrschaft die Krimtataren inzwischen standen. Katharina die Große brachte die Halbinsel 1783 unter Moskaus Kontrolle, um sie „von nun an und für alle Zeiten“ für russisch zu erklären – das normative Pathos dürfte bezeugen, dass sie ihrer Sache so sicher nicht war.

Katharinas Nachfolger machten die Halbinsel zum Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte, die Mitte des 19. Jahrhunderts versuchte, dem Osmanenreich den Rest zu geben. Das Ergebnis war der Krimkrieg, der sich rasant zur europäischen Großmachtkonfrontation auswuchs. Russland stand im Schwarzen Meer bald nicht nur den Türken gegenüber, sondern auch den Flotten Großbritanniens und Frankreichs. Trotzdem blieb die Krim in Moskauer Hand, und die empfindliche Kriegsniederlage machte den Flottenstützpunkt Sewastopol zur russischen Märtyrer- und Heldenstadt.

Ein Geschenk an das "Brudervolk"

Vertieft wurde dieses Bild im Zweiten Weltkrieg, als die sowjetische Flotte hier so verlust- wie erfolgreich gegen die Deutschen kämpfte. Bis heute ist Sewastopol deshalb im russischen Bewusstsein ein mythischer Geschichtsort. Dass Chruschtschow die Stadt 1954 der ukrainischen Sowjetrepublik zuschlug, zusammen mit dem Rest der Krim, war damals ein bedeutungsloser Verwaltungsakt. Auch wenn die Halbinsel mit dem Zerfall der Sowjetunion formal ukrainisch wurde, verstehen sich die meisten Bewohner bis heute als Russen – vor allem in Sewastopol, wo nach wie vor Russlands Schwarzmeerflotte stationiert ist.

Alte Gewohnheiten sterben nicht, sagt ein Sprichwort. Nach dem Ende des Kalten Krieges erklärte zuletzt Samuel Huntington die Krim zur angeblich zivilisationsscheidenden Frontlinie im „Kampf der Kulturen“. Huntington selbst, vor allem aber seine derzeit so lautstark auftretenden Apologeten im Westen wie im Osten der alten Kriegsbarrieren täten gut daran, aus der Geschichte der Krim ihre Lehren zu ziehen. Wer versucht, hier eine Kulturgrenze zwischen „zivilisiertem“ und „unzivilisiertem“ Europa zu ziehen, der fällt auf einen sehr alten Krimtrick herein.

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