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Ein Denkmal vor der früheren Residential School in Kamloops erinnert an das dunkle Kapitel in Kanadas Geschichte.

© Dennis Owen/Reuters

Kanadas Trauma: Die gepeinigten Seelen von Kamloops

Der grausige Fund von 215 toten indigenen Kindern auf dem Gelände einer ehemaligen Schule erinnert Kanada an eines der unrühmlichsten Kapitel seiner Geschichte.

Seit Jahren setzt sich Kanada schonungslos mit einem der dunkelsten Kapitel seiner Geschichte auseinander: der Unterdrückung und Misshandlung vieler Kinder der indianischen Völker in staatlichen Internatsschulen. Nun haben grausige Funde auf dem Gelände einer ehemaligen Schule diese Tragödie erneut ins Bewusstsein gerufen. Dort wurden die sterblichen Überreste von 215 Kindern aus First Nations entdeckt. Premierminister Justin Trudeau äußert sich betroffen, das Parlament legt eine Schweigeminute ein.

Auf der Treppe der Kunstgalerie von Vancouver stehen 215 Paar Kinderschuhe. Sie sind ein erschütterndes Mahnmal, das spontan errichtet wurde. Jedes Paar symbolisiert ein Kind, dessen sterbliche Überreste auf dem Gelände der früheren „Residential School“ in Kamloops im Landesinneren der Pazifikprovinz British Columbia gefunden wurde. Mit einer Radartechnologie, die den Boden durchdringt, war das Gelände untersucht worden. Am Wochenende wurde ein vorläufiges Ergebnis der Öffentlichkeit präsentiert. Die Untersuchungen bestätigen, was die Angehörigen der im Raum Kamloops lebenden First Nation vermuteten, aber bisher nicht nachweisen konnten: Dass zahlreiche ihrer Kinder in dieser Schule ums Leben kamen und ihr Tod nicht dokumentiert, sondern verschwiegen wurde, und dass sie rund um die Schule begraben wurden. „Es ist niederschmetternd, das zu erfahren. Das ist eine brutale Wirklichkeit, und es ist unsere Wahrheit, es ist unsere Geschichte“, sagt Rosanne Casimir. Sie ist Chief der Tk’emlups te Secwepemc First Nation, also Häuptling dieser First Nation. „Wir mussten immer darum kämpfen, sie zu beweisen.“

Residential Schools sind Internatsschulen, die vom Staat eingerichtet, aber überwiegend von Kirchen geführt wurden. Die ersten wurden bereits vor Gründung Kanadas 1867 geschaffen. Sie wurden dann zu dem dominierenden Schulsystem für die Kinder der Ureinwohnervölker: für die Kinder der First Nations, wie die indianischen Nationen genannt werden, des Volks der Inuit und der Métis. 130 dieser Schulen gab es in Kanada. Residential Schools bestanden bis in die 1990er Jahre, aber Ende der 1960er Jahre setzte ihr rascher Niedergang ein, als die schlimmen Folgen dieses Schulsystems immer deutlicher wurden.

Assimilieren hieß: Identität und Kultur zerstören

Die Schulen hatten das Ziel, die Kinder in den von europäischen Einwanderern geprägten Staat einzugliedern. Assimilieren aber bedeutete, ihre indigene Identität und Kultur zu zerstören. Die Kinder wurden ihren Familien entrissen und in die Schulen gebracht, die meist außerhalb ihrer Reservate lagen, viele sehr weit entfernt. Über Monate und manchmal Jahre hinweg sahen sie ihre Familien nicht. Sie verloren ihre Identität und ihr Selbstwertgefühl. Sie durften ihre Muttersprache nicht sprechen, ihre Bräuche nicht pflegen. Zu den dunkelsten Seiten innerhalb dieses ohnehin tragischen System gehörte der sexuelle Missbrauch. Kinder wurden körperlich gezüchtigt, etliche begingen Suizid oder flohen aus den Residential Schools. Bis heute ist das Schicksal vieler Kinder ungeklärt, die in Internaten oder auf der Flucht ums Leben kamen.

Viele Probleme indigener Gemeinden – zerstörte Familien, Alkohol- und Drogenmissbrauch und Gewalt – werden auch auf die Residential Schools zurückgeführt. 2008 entschuldigte sich die kanadische Regierung bei den Angehörigen der Ureinwohnervölker. „Die Regierung von Kanada entschuldigt sich aufrichtig und bittet um die Vergebung der indigenen Völker dieses Landes. Es tut uns leid“, sagte der konservative Premierminister Stephen Harper. 2015 bezeichnete die „Wahrheits- und Versöhnungskommission“ Residential Schools als „Bestandteil einer bewussten Politik des kulturellen Genozids“.

Neue Radartechnologie wurde bei der Suche eingesetzt

Die Internatsschule von Kamloops war 1890 eröffnet und 1978 geschlossen worden. Sie war zeitweise die größte Residential School in Kanada. In den First Nations hielten sich die Geschichten von Kindern, die nie mehr nach Hause zurückkehrten. Bereits vor 20 Jahren wurden erste Versuche unternommen, die sterblichen Überreste von Kindern zu lokalisieren. Nun wurde mit finanzieller Unterstützung der Provinz neue Radartechnologie eingesetzt. Damit konnten nach Angaben von Chief Casimir die Überreste von 215 Kindern gefunden werden. Es sind nach ihren Aussagen bisher nicht dokumentierte Todesfälle. Einige Kinder sind sehr jung – die jüngsten sollen drei Jahre alt sein. Ein ausführlicher Bericht soll im kommenden Monat veröffentlicht werden.

Premierminister Justin Trudeau sagte, die Nachricht von der Entdeckung der toten indigenen Kinder sei eine „schmerzvolle Erinnerung an dieses dunkle und schändliche Kapitel der Geschichte unseres Landes“. Für die indigenen Völker durchleben mit den Entdeckungen von Kamloops erneut die dunkelste Phase ihrer Geschichte. „Jeder Kanadier muss lernen, was damals geschah, und welche Traumata das über Generationen hinweg verursachte“, sagte ein Sprecher von First Nations in der Provinz Manitoba.

Seit 1970 wurden die Rechte der indigenen Völker gestärkt

Seit 1998 hat sich die kanadische Regierung bei mehreren Gelegenheiten für das Leid entschuldigt, das die Residential Schools angerichtet haben. Die Rechte der indigenen Völker in Kanada wurden seit den 1970er Jahren gestärkt. Der Lebensstandard hat sich in vielen Gemeinden verbessert, aber er ist immer noch niedriger als der der nichtindigenen Bevölkerung. Es gibt soziale Not, es herrscht Wohnraummangel, das Gesundheitswesen ist unterentwickelt und zahlreiche Gemeinden haben keinen gesicherten Zugang zu sauberem Trinkwasser. Hinzu kommt ein anhaltendes Problem mit Diskriminierung und Rassismus, die die indigenen Völker immer noch spüren.

Nach der grausigen Entdeckung von Kamloops werden nun Pläne ausgearbeitet, die Kinder zu identifizieren und ihre Überreste in ihre Gemeinden zu bringen. Danach steht die Tk’emlups te Secwepemc First Nation vor der schmerzvollen Aufgabe, den betroffenen Familien nach Jahrzehnten der Ungewissheit mitzuteilen, was mit den Kindern geschah.

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