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Immer wieder gehen Vertreter indigener Gruppen zu Verteidigung ihrer Rechte auf die Straße, hier ein Foto aus dem Oktober 2020.

© Imago / Robin Pueyo / Hans Lucas

Gefangene der Geschichte: Der lange Kampf der indigenen Völker Kanadas

Tagesspiegel-Korrespondent Gerd Braune und der Historiker Manuel Menrath analysieren in neuen Büchern die Folgen der Kolonialisierung für Kanadas Ureinwohner.

Die Kinder wurden ihren Familien entrissen, durften ihre Sprache nicht mehr sprechen und ihre Traditionen nicht mehr pflegen. Sie wurden misshandelt und oft sexuell missbraucht, Tausende von ihnen starben eines unnatürlichen Todes. Und die Überlebenden leiden bis heute unter ihren Erlebnissen, mit weitreichenden Folgen für ihre Familien und ihre Gemeinschaften. Zehntausende Jungen und Mädchen aus indigenen Familien wurden im 19. und 20. Jahrhundert von der kanadischen Regierung in sogenannte Residential Schools gezwungen, von der Kirche betriebene und von der Regierung finanzierte Internate.

Ausgangspunkt einer fundamentalen Traumatisierung, deren offizielles Ende inzwischen zwar einige Jahrzehnte zurückliegt, die die kanadische Gesellschaft aber bis heute beschäftigt. Neben den zahlreichen Veröffentlichungen, die sich in Kanada in den vergangenen Jahren mit dem Schicksal der indigenen Völker beschäftigt haben, haben sich jetzt auch zwei deutschsprachige Autoren dieses Themas angenommen: Der Journalist Gerd Braune, der seit 23 Jahren als Korrespondent aus Ottawa berichtet und auch für den Tagesspiegel schreibt, sowie der Schweizer Historiker Manuel Menrath, der seit 2014 zahlreiche Recherchereisen nach Kanada unternommen hat.

„Gefängnisse für Kinder“

„Residential Schools hatten das Ziel, die Ureinwohnerkinder in den von europäischen Einwanderern und ihren Werten geprägten Staat einzugliedern“, schreibt Braune in seinem Buch „Indigene Völker in Kanada – Der schwere Weg zur Verständigung“ (Ch. Links Verlag, Berlin 2020. 272 Seiten, 20 €) Diese Schulen, deren letzte erst in den 1990er Jahren geschlossen wurden, hätten vor allem ein Ziel gehabt: „die Kinder zu assimilieren und ihre indianische Identität und Kultur zu zerstören.“

Getanzte Tradition. Teilnehmer des Squamish Nation Youth Pow Wow in Vancouver im Sommer 2019.
Getanzte Tradition. Teilnehmer des Squamish Nation Youth Pow Wow in Vancouver im Sommer 2019.

© Imago / Xinhua/Liang Sen

Menrath beschreibt diese „Gefängnisse für Kinder“ in seinem Buch „Unter dem Nordlicht – Indianer aus Kanada erzählen von ihrem Land“ (Galiani, Berlin 2020., 450 S., 26 €) als integralen Teil der „totalen Aneignung des kanadischen Territoriums durch die Neusiedler“ und zitiert den Poeten Duncan Campbell Scott, der von 1913 bis 1932 das „Amt für Indianerangelegenheiten“ der kanadischen Regierung leitete. Der pries damals die Residential Schools als Teil jener Politik, die „eine endgültige Lösung unseres Indianerproblems anstrebt“.

„Die Schulen richteten unermesslichen Schaden an, indem sie über mehrere Generationen Familien- und Gesellschaftsstrukturen zerstörten“, schreibt Braune. Viele Probleme indigener Gemeinden – zerstörte Familien, Alkohol- und Drogenmissbrauch, Gewalt – würden auf die Residential Schools zurückgeführt. Er und Menrath sehen die Internate allerdings nur als einen Baustein eines größeren Systems der Bevormundung, Enteignung und Entrechtung der Ureinwohner. Um das zu vermitteln, steigen beide Autoren tief in die Geschichte der indigenen Völker Kanadas ein.

First Nations, Inuit und Métis

Braune legt seinen Fokus in sachlichem, teils fast nachrichtlichem Ton auf politische Entwicklungen und vermittelt neben persönlichen Begegnungen mit wichtigen Akteuren quer durch Kanada ein fast enzyklopädisches Wissen. Er nimmt zudem ganz Kanada in den Blick und widmet sich neben den in Kanada First Nations genannten Völkern, die man hierzulande als „Indianer“ bezeichnet – ein kolonialistisch geprägter und in Kanada weitgehend verpönter Begriff, den beide Autoren problematisieren, aber nicht ganz vermeiden können – auch den Inuit im hohen Norden sowie den Métis, also den hierzulande lange als „Eskimos“ bezeichneten Ureinwohnern der arktischen Regionen sowie den Nachfahren französischer Pelzhändler und indigener Frauen, die eine eigenständige Bevölkerungsgruppe darstellen.

Lauter Protest. Indigene Teilnehmerinnen einer Demonstration im Oktober 2020 in Toronto.
Lauter Protest. Indigene Teilnehmerinnen einer Demonstration im Oktober 2020 in Toronto.

© Imago / Robin Pueyo / Hans Lucas

Menrath lässt sein Publikum an Begegnungen mit rund 100 Gesprächspartnern teilhaben, durch deren ausführlich wiedergegebenen Schilderungen sich ihm als anfangs betont naivem Beobachter nach und nach erschließt, wie reichhaltig deren Kultur einst war, welch enge Beziehung sie zum Land hatten und welche Umbrüche mit der Kolonialisierung durch die Europäer einhergingen. Sein Ton ist meist persönlich und, wenn es etwa um Spiritualität geht, sogar poetisch angehaucht. Bei seinen Gesprächspartnern beschränkt er sich weitgehend auf die Völker der Cree und Ojibwe, die oft abgeschieden in Reservaten in Nord-Ontario leben.

Schwierige Versöhnung

Was die Gesprächspartner der beiden erzählen, ist auch für Kanada-Kenner faszinierend und aufschlussreich. Denn auch wenn man schon manches darüber wusste, wie die indigenen Völker seit der Ankunft der ersten Europäer im 16. Jahrhundert sukzessive um ihr Land, ihre Rechte und ihre Kultur gebracht wurden und wie nachhaltig die Folgen des Traumas sind, hat man es doch selten in deutschsprachigen Publikationen so anschaulich vermittelt bekommen wie hier.

Neben der Historie behandeln beide Autoren auch die Versuche des Widerstands sowie der Versöhnung zwischen der kanadischen Regierung und den indigenen Völkern. Beide würdigen das wachsende Selbstbewusstsein, mit dem indigene Politiker, Aktivisten, Unternehmer oder Künstler sich im modernen Kanada behaupten, für mehr Rechte sowie für eine Akzeptanz ihrer Kultur und ihrer Traditionen kämpfen.

Ein Prozess, zu dem auch Nicht-Kanadier beitragen können, wie Menrath betont, wenn sie sich zum Beispiel als Touristen mit der Geschichte des Landes und seiner indigenen Bewohner beschäftigen. Die wissen nach der Lektüre dieser Bücher, dass zum international verbreiteten Bild vom Land der unbegrenzten Naturschönheiten, der multikulturellen Modernität und der hohen Lebensqualität auch unzählige grauenhafte und für die Betroffenen bis heute schmerzhafte Erfahrungen gehören, deren Aufarbeitung noch im Gange ist.

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