zum Hauptinhalt
Zwei Rabbis stehen neben einem Mahnmal zum Gedenken an die Opfer des Holocausts in Kiew (Symbolbild).

© IMAGO/ZUMA Wire

Flucht ins Land der Täter: Ukrainischer Holocaust-Überlebender flieht nach Deutschland

Vor den Nazis floh er aus Belarus, kam später in die Ukraine und musste jetzt erneut das Land verlassen. Sicherheit findet er nun in Frankfurt.

Von Sam Reeves

Als kleines Kind floh Borys Schyfrin mit seiner jüdischen Familie vor den Nazis. Mehr als achtzig Jahre später wurde der Holocaust-Überlebende erneut aus seiner Heimat vertrieben - diesmal von den russischen Invasoren in der Ukraine. Bei seiner zweiten Flucht fand er ausgerechnet in Deutschland Sicherheit.

Schyfrin gehört zu jenen ukrainischen Juden, die den Nazi-Terror überlebten und nun in das Land flohen, das einst sechs Millionen Juden ermordete. Seit Jahrzehnten war Mariupol sein Zuhause, und der 81-Jährige wollte dort bis an sein Lebensende bleiben. Doch der brutale Angriff der russischen Truppen ließ ihm keine Wahl.

„Es gab kein Gas, keinen Strom und kein Wasser“, erzählt Schyfrin in seinem Frankfurter Pflegeheim von den Bombenangriffen auf Mariupol. Die Straßen seien voller Leichen gewesen. „Niemand hat sie aufgesammelt. Die Menschen haben sich daran gewöhnt, niemand hat sie beachtet“. Die meiste Zeit versteckte sich der Witwer im Keller, aß, was er an Essbarem finden konnte; ein Löschfahrzeug brachte Wasser.

DIe Flucht nach Deutschland

Ein Rabbi half Schyfrin und anderen Juden schließlich, die Stadt zu verlassen. Die Flucht ging über die Krim, durch Russland und Belarus zunächst nach Warschau. Nach einigen Wochen in Polen wurde der Platz im Frankfurter Heim gefunden. Die jüdische Claims Conference, die gemeinsam mit der in Europa tätigen Hilfsorganisation American Jewish Joint Distribution Committee (JDC) viele Holocaust-Überlebende aus der Ukraine evakuierte, organisierte im Juli seinen Transport im Krankenwagen.

Die Hilfsorganisation American Jewish Joint Distribution Committee feierte 2013 ihr 100-jähriges Bestehen (Archivbild).

© IMAGO/piemags

Schyfrin ist immer noch dabei, die dramatischen Veränderungen zu verarbeiten, die ihn unerwartet nach Deutschland führten. Der Krieg sei für ihn eine „sehr große Überraschung“ gewesen, sagt der alte Mann, der sich beim Gehen auf einen Stock stützt.

„Früher habe ich den russischen Präsidenten Wladimir Putin sehr geliebt“, bekennt Schyfrin. Seine Muttersprache ist Russisch, er leistete in der Sowjetunion Militärdienst und arbeitete als Funktechniker bei der russischen Armee. „Jetzt weiß ich nicht, ob Putin mit seinem Krieg gegen die Ukraine Recht hat oder nicht. Aber wegen dieses Krieges bin ich heimatlos geworden.“

Schyfrin wurde 1941 in Gomel in Belarus geboren. Als er drei Monate alt war, floh seine Familie in die damalige Sowjetrepublik Tadschikistan, um Hitlers Truppen zu entkommen, die die Region besetzt hielten. Viele belarussische Juden kamen ums Leben. Auch in der benachbarten Ukraine wurde die einst große jüdische Gemeinde fast vollständig ausgelöscht.

Gläubige Juden beten in einer Synagoge in Odessa in der Ukraine im März 2022 (Symbolbild).

© IMAGO/Agencia EFE

Nach dem Krieg kehrte seine Familie nach Belarus zurück. Schyfrin schloss sein Studium ab, ging zum Militär und ließ sich Mitte der 1970er Jahre in der Ukraine nieder, die damals ebenfalls zur Sowjetunion gehörte.

Noch gibt es viele Herausforderungen - psychisch und organisatorisch

Nicht nur die psychischen Folgen der zweiten Flucht muss Schyfrin bewältigen. Er hat auch viele organisatorische Dinge zu regeln - zum Beispiel, wie er an sein Geld in der Ukraine kommt. „Ich komme nicht einmal an meine ehrlich verdiente Militärrente“, sagt er.

Einstweilen unterstützt die Claims Conference den Rentner finanziell. Vor Kurzem zog er in ein neues Seniorenheim um, das von der jüdischen Gemeinde betrieben wird und in dem es mehr Bewohner und Personal gibt, die Russisch sprechen.

Viele Jahre lang halfen die Claims Conference und ihr Partner JDC Holocaust-Überlebenden in der Ukraine. Seit Beginn des Krieges brachten sie mehr als 90 von ihnen nach Deutschland.

Weil viele der Überlebenden „einen sehr hohen Bedarf hatten an Fürsorge und ohne diese Hilfe nicht überleben konnten“, sei ihnen klar gewesen, dass sie alles tun mussten, um sie zu evakuieren, sagt Rüdiger Mahlo, der Repräsentant der Claims Conference in Deutschland.

Die Tatsache zu begreifen, dass sie gerade in Deutschland Zuflucht gefunden haben, sei für manche der alten Menschen schwierig. Sie fliehen in ein Land, „was sie damals verfolgt hat und was damals alles getan hatte, um sie umzubringen“, sagt er. „Sicherlich sind sie traumatisiert.“ (AFP)

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false