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Ein Stofftier und Kerzen haben Menschen vor dem Haus niedergelegt, in dem die fünf toten Kinder gefunden wurden.

© Roberto Pfeil/dpa

Erst betäubt und dann vermutlich erstickt: Warum tut eine Mutter ihren Kindern so etwas an?

Solingen ist kein Einzelfall. Die Kriminalstatistik verzeichnet durchschnittlich zwei Tötungsdelikte an Kindern pro Woche. Fast alle verübt in der Familie.

Von Caroline Fetscher

Alarmzeichen seien übersehen worden. So heißt es jetzt über die Mutter, die am Donnerstag in Solingen fünf ihrer sechs Kinder tötete. Nach den Taten soll die 27 Jahre alte Christiane K. versucht haben, sich selbst das Leben zu nehmen, als sie sich am Donnerstag am Hauptbahnhof Düsseldorf vor eine S- Bahn warf. Sie überlebte verletzt.

Christiane K. steht im Verdacht, ihre drei Töchter Melina, Leonie und Sophie sowie die Söhne Timo und Luka erst sediert und dann in ihren Betten erstickt zu haben, Kinder im Alter von anderthalb bis acht Jahren. Offenbar beging die Alleinerziehende die Taten nach dem gemeinsamen Frühstück, während der Älteste, der elf Jahre alte Marcel, in der Schule war.

Ihn holte die Mutter aus dem Unterricht und nahm ihn mit zum Bahnhof, wo sie ihn gehen ließ, sodass er zur Großmutter nach Mönchengladbach fahren konnte. An sie schrieb Christiane K. per Whatsapp-Nachricht: „Schick die Polizei in die Wohnung, die Kinder sind tot.“ Inzwischen war im Fernsehen die schmucklose Fassade eines Wohnblocks zu sehen, hinter der die Taten begangen worden sein sollen. Und hinter der es trostlos gewesen sein muss.

Laut Staatsanwaltschaft war die Familie polizeilich auffällig gewesen, es habe Konflikte gegeben, Noteinsätze, 2014 einen Wohnungsbrand, 2019 eine Anzeige der Mutter gegen einen der drei Kindsväter wegen Diebstahls. Von einer „zerrütteten Familie“ sprechen die Ermittler. Behörden beteuern trotz alledem, es habe „zu keinem Zeitpunkt“ Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Kindeswohls gegeben. Das dürfte stark bezweifelt werden.

Die Mutter steht unter Mordverdacht

Jetzt steht die Mutter unter Mordverdacht und soll sich in einer Justizvollzugsklinik befinden. Und die Frage „Warum tun Mütter so etwas?“ echot durch das Land.

Mütter tun so etwas. Doch die Gesellschaft wehrt das Wissen ab, außer wenn spektakuläre Fälle von Mehrfachtötungen ans Licht drängen.

Schon vergessen scheint etwa Sabine H. aus Frankfurt an der Oder, die 2009 zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde. Neun Neugeborene hatte die Mutter nach der Geburt getötet, und einige der Körper in Blumenkästen auf dem Balkon vergraben. Auch damals erscholl die Frage, wie es denn sein könne, dass Mütter ihre Kinder umbringen.

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Mütter sind gleichwohl ebenso Täterinnen wie Väter. Die Kriminalstatistik der Bundesrepublik verzeichnet durchschnittlich zwei „vollendete Tötungsdelikte“ an Kindern pro Woche, durch Misshandlung oder Vernachlässigung, fast alle verübt in der Familie.
Inwieweit Mütter durch Tun und Unterlassen beteiligt sind, geht nicht in die Statistik ein.

Dass sie es sind, ist unbestritten. „Die gefährlichsten Personen für Kinder sind Vater und Mutter“ erklären die Rechtsmediziner Saskia Etzold und Michael Tsokos in ihrem Buch „Deutschland misshandelt seine Kinder“ von 2014. Doch nach wie vor geistert die Täterfigur des „fremden Mannes am Spielplatz“ durch die Öffentlichkeit.

Mütter, die Kinder gefährden und töten, sind meist labil. Psychisch unterscheiden sie nicht klar zwischen sich und den Kindern, zwischen ihrem Leib und den Früchten ihres Leibes, sie ziehen keine Grenze zwischen sich und dem Kind, dass sie als bedroht oder bedrohlich empfinden können.

Auch Rache am Partner kann ein Motiv sein

Drastisch wirkt sich das aus in Fällen von Müttern mit Münchhausen by Proxy Syndrom, die ihre Kinder absichtlich verletzen oder krank machen, um sie klinischen Behandlungen auszusetzen. Mindestens zehn Prozent der betroffenen Kinder sterben daran.

Zu den Motiven tötender Mütter kann auch die Rache am Partner, am Vater gehören, wie sie schon in der griechischen Sage von Medea auftaucht, die, von Jason verstoßen, aus Wut und Enttäuschung beide Söhne ermordete. In verzweifelt suizidaler Lage, wenn die Welt unerträglich scheint, haben einige Mütter die Tendenz, ihre Kinder „mitnehmen“ zu wollen in den Tod, um sie vor einer feindlich erlebten Welt zu schützen.

Daten zeigen, dass Frauen eher durch Vergiften, Ersticken oder Ertränken töten denn durch rohe Gewalt – so können Täterinnen sich einreden, ihre Opfer seien friedlich „eingeschlafen“.

Zu allen Zeiten haben Erwachsene Kinder ermordet

Kriminologen unterscheiden bei Kindstötungen zwischen Neonatizid, der bald nach der Geburt verübt wird, Infantizid, begangen an Kindern bis zu ein, zwei Jahren, und dem Filizid, der ältere Kinder trifft. Häufig sind die Täterinnen jung und haben selbst in der Kindheit Gewalt erfahren, meist sind sie in Krisen- und Trennungssituationen.

Kinder erfordern Schutz und Pflege, sie garantieren den Fortbestand von Gruppen, sie zu töten müsste tabu sein. Dennoch haben Erwachsene über die Jahrhunderte Kinder ermordet.

Rituelle Kindstötungen gab es auf mehreren Kontinenten, wie die Tofet-Kultstätten des antiken Mittelmeerraums belegen oder Massengräber in Mesoamerika. 2019 fanden Archäologen in Peru die Gebeine von mehr als 140 Jungen und Mädchen, die um das Jahr 1450 herum in der Chimú-Kultur rituell getötet worden waren.

Weitaus seltener ist der bekanntere Vatermord

An allen fanden sich Einschnitte am Brustbein, was auf die Entnahme der Herzen deutet. Religiöse Vorstellungen von grausam fordernden Gottheiten legitimierten solche Praxis, die freilich menschlichen Fantasien entsprang.

Das Rituelle dürfte der Versuch gewesen sein, zu überhöhen, was an sich anstößig scheinen musste. Kindsmorde geschahen aus Not und Armut, angetrieben von Gier, aus dynastischen Motiven, aus Aberglauben oder psychotischem Wahn. Involviert waren meist Mütter wie Väter. Dennoch erzählen Mythen und Legenden häufiger vom – weitaus selteneren – Vatermord als vom Mord am Kind.

So verfährt auch der berühmte Mythos von Ödipus, dessen Vater prophezeit worden war, der Sohn werde ihn umbringen und die Mutter ehelichen. Daher plante der Vater den Mord am Säugling, der nur überlebte, weil der Auftragskiller, ein Hirte, sich des Kindes erbarmte.

Nicht immer sind die Eltern das Beste fürs Kind

Im Lauf der Geschichte nahmen Kindsmorde tendenziell ab. Aufklärung und Sozialsysteme bieten Kindern, zumal in demokratischen Wohlstandsgesellschaften, mehr Schutz. Umso skandalöser ist es, wenn fehlender Kinderschutz als „Familiendrama“ und „Tragödie“ vom Politischen ins Private verschoben wird.

Überforderten Jugendämtern fehlt Personal, Polizei, Schulen und Kindergärten fehlt Fortbildung, Gerichte verharren zu oft dabei, leibliche Eltern seien „das Beste fürs Kind“, was der Kinderrechtsexperte Ludwig Salgo „friendly parent illusion“ nennt.

Sie erweist sich als langlebiger Mythos, der Leben kostet.

So vermutlich auch im Fall von Christiane K., deren Not und Dilemma niemand in seinem Ausmaß gesehen hat, um die Rettung von Melina, Leonie, Sophie, Timo und Luka möglich zu machen. Und ihrem Bruder Marcel die Geschwister zu erhalten.

Hinweis der Redaktion: Wenn Sie unter Depressionen, schweren Konflikten oder Selbstmordgedanken leiden oder jemanden kennen, dem es so geht, finden Sie sofort, gratis und 24 Stunden lang Hilfe bei der Telefonseelsorge: 0800/111-0-111 und 0800/111-0-222 oder im Internet auf der Webseite  www.telefonseelsorge.de.

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