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Berlin: Böse Mütter sieht man nicht

Sie sind psychisch schwer krank, sie quälen ihre Kinder – und keiner merkt es. Frauen, die am Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom leiden, schauspielern brillant. Ein Fall aus Berlin

Von Caroline Fetscher

Ein Zimmer. Ein Kind. Eine Mutter. Ruhe. Aufmerksam hockt Lisbeth Göttling (Name von der Redaktion geändert) in heller Bluse und grauer Jeans vor ihrer Tochter. Melinda bastelt aus Bauklötzen eine Brücke. Sparsam ausgestattet ist dieses Spielzimmer, das eigentlich ein klinisches Beobachtungszimmer ist, auf dem Virchow-Campus der Charité, Berlin, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters. Ein Regal aus Kiefernholz steht da, eine Tafel, ein Korb voller Spielzeug. Und eine Kamera. Sie hält fest, was Melinda und ihre Mutter tun. Wer dieser Mutter zusieht, wie sie da neben der Tochter in die Hocke geht, der meint, eine ganz normale Frau vor sich zu haben. Eine Mutter, die sich Mühe gibt.

Der Schein täuscht. Lisbeth Göttling aus Moabit, Anfang 30, Fotolaborantin, ist eine schwer kranke, potenziell hochgefährliche Frau. Sie tut alles, um ihr Kind krank zu machen – allerdings ohne zu wissen, was sie da tut oder warum. „Münchhausen by proxy“ oder Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom (MBP) nennen Psychiater diese Variante der Kindesmisshandlung. Baron Münchhausen log, wie diese Mütter lügen, die ein Kind, ihr „proxy“ – ihren Stellvertreter – als krank ausgeben, während es in Wahrheit gesund ist.

Melinda, die heute fünf Jahre alt ist, hat einen schweren Leidensweg hinter sich, sagt Andreas Wiefel. Er ist Oberarzt in der Kinderpsychiatrie des Virchow-Klinikums und befasst sich mit Störungen im frühkindlichen Bindungsaufbau zwischen Eltern und Kind, und er war es auch, der die Szenen mit Lisbeth Göttling und Melinda aufnehmen ließ. Melindas Mutter benutzte ihr Kind wie ein Objekt, redete ihm Symptome ein und schleppte es zu Ärzten. Das Motiv: Solche Frauen wollen das leuchtende Bild der besonders fürsorglichen Mutter erschaffen und sich in der gesellschaftlichen Anerkennung sonnen, die ihnen das verschafft. Dafür verpassen sie ihren Kindern Pillen oder Spritzen, infizieren Wunden oder geben, wenn das Kind dann endlich im Krankenhaus gelandet ist, zusätzliche Stoffe in Dauertropfflaschen. In einer englischen Klinik wurden deshalb sogar schon Videoüberwachungen eingerichtet.

„Es ist typisch für diese Täterinnen“, erklärt Wiefel, „dass sie äußerlich normal und gutbürgerlich wirken. Sie sind exzellente Schauspielerinnen.“ Der Arzt erinnert sich gut an die erste Begegnung mit Mutter und Tochter Göttling. „Im Jahr 2002 tauchten sie eines Abends hier auf. Wir haben eine Schreiambulanz, dort brachte die Mutter Melinda hin.“ Das Mädchen, meinte sie, sei nicht normal. Sie sagte: „Sie schreit pausenlos, beißt und kratzt. Geht etwas gegen ihren Willen, bekommt sie Wutanfälle. Sie macht mir nichts als Kummer.“ Das Mädchen, so klein es noch war, hatte eine verzweifelte Rebellion angezettelt, gegen eine Welt, in der es zu niemandem Vertrauen fassen konnte, gegen einen Kosmos, der den Namen Mutter trug und dessen Klima furchtbar war. Es hatte sich, sagt Wiefel, „in eine Pseudodebilität geflüchtet“. Melinda gab sich zurückgeblieben, sprach wenig. Es war eine Strategie, um die bedrohliche Mutter weniger akut wahrnehmen zu müssen.

Aber das wussten die Ärzte zuerst nicht. Arglos untersuchten sie Melinda. Blutwerte, Stoffwechsel, neurophysiologische Reaktionen, möglicher Autismus, neurologische Anomalien – sie fanden nichts. Aber die Mutter kam immer wieder mit Melinda an. Irgendwann dämmerte ihnen, dass diese Mutter, die zwar erklärt, „ich will immer nur das Beste für mein Kind!“, massive seelische Probleme hatte und sie unbewusst, aber sehr zielstrebig auf der kleinen Tochter abladen wollte. Gezielt manipulierte sie Mediziner für ihre Zwecke. Wiefel sagt: „Sie erfand Symptome, um Melinda überflüssige Medikamente, wie etwa ein Anti-Epileptikum verschreiben zu lassen.“

Die Väter lassen diese Mütter am liebsten ganz aus dem Spiel. Sie wollen die volle Kontrolle: „Melindas Mutter versuchte, der Kleinen klarzumachen, dass sie gar keinen Vater hat.“ Als seelische Nebelwerfer sind solche Mütter hochgradig wirksam, nicht nur den Kindern gegenüber. Bestürzt beschreibt der Washingtoner Psychiater und Psychoanalytiker Kent Ravenscroft seine tiefe Irritation bei der Behandlung von MBP-Frauen. „Sie stellen mit ihrer Verwirrtaktik und Perfidie meinen Realitätssinn auf den Kopf.“ Kindesmisshandlung, das ist im Bewusstsein des Menschen die Domäne männlicher Täter.

Als Erster hat Sir Roy Meadow, ein heute in England arbeitender Pädiater und Psychiater diese Variante psychopathologischen Handelns beschrieben, das war 1977. Meadow siedelte sie im „Hinterland des Kindesmissbrauchs“ an, sein Essay in der Fachzeitschrift „The Lancet“ machte Furore, wurde zunächst aber eher in den angelsächsischen Ländern bekannt. Erst langsam bahnen sich Meadows Erkenntnisse nun ihren Weg ins Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit. Vor einigen Monaten hat das Universitätsklinikum Würzburg unter der Leitung von Psychiatern und Forensikern ein bundesweites Pilotprojekt gestartet, das MBP-Fälle an Kinderkliniken statistisch erfassen soll; genaue Zahlen gibt es aber noch nicht. Neulich lief sogar ein „Tatort“ über eine Münchhausen-Mutter.

„Mit der Erforschung von Kindesmisshandlung verhält es sich ein bisschen so, wie mit der modernen Physik“, sagt Andreas Wiefel. „Zuerst begriff man die groben Phänomene, Kern, Positron, Neutron. Heute ist man in der Mikrophysik kleinsten Teilchen auf der Spur.“ Ärzte und Therapeuten, die das MBP-Syndrom im Blick haben, gehen raffiniert verborgenen Mikroindizien nach, einer Verästelung im weiten Spektrum.

Dabei kommen weltweit mehr und mehr Fälle ans Licht. Erst kürzlich ist der erschütternde Bericht einer Betroffenen als Buch erschienen. Die junge US-Autorin Julie Gregory erinnert sich in „Sickened“ (deutsch „Du hast mich krank gemacht“) an eine Kindheit voller Lügen und Leiden und dass es Jahre dauerte, bis ihr jemand glaubte, dass ihre äußerlich so wohlmeinende Mutter schwer gestört war. Und auch in Berlin gibt es solche Mütter. Andreas Wiefel beschreibt den Fall eines Kreuzberger Jungen, dessen Mutter ihn im Rollstuhl in die Klinik schiebt, obwohl er gut laufen kann. Seine Kollegen begegnen Frauen, die Kinder mit „Allergien“ oder „Rheuma“ zur Klinik bringen – Kinder, denen nichts fehlt. „Sobald wir relativ sicher sind, dass MBP vorliegt, veranlassen wir eine Konfrontation“, sagt er. „Wir erklären der Mutter, dass ihre Aussagen und die Befunde nicht zusammenpassen.“ Aber das irritiert die kranken Mütter gar nicht. „Es gibt da im Gespräch nur winzige Inseln der Wahrheit in einem Ozean von psychischer Desorganisation“, sagt Wiefel seufzend. Zum Glück seien aber nicht alle Fälle so gravierend. Die Diagnoseskala für MBP ist fließend, betont Wiefel. Sie reicht von Ängstlichkeit bei trivialen Symptomen über die Übertreibung und Erfindung von Symptomen bis zur Erzeugung von Symptomen – mit vielen Schattierungen dazwischen.

Im Fall Melinda Göttling hat das Team der Charité schließlich das Jugendamt alarmiert. „Während einer Beobachtungszeit in der Klinik brach die Mutter die Behandlung ab, mit dem Argument, die Klinik habe die Beschwerden erst hervorgebracht.“ Ohne die Mitarbeiter der Charité zu informieren, zog die Mutter von Praxis zu Praxis, schaffte das Kind auch in eine andere Klinik und ließ die Untersuchungen an Melinda von Neuem vornehmen. „Wo sie noch überall war, wissen wir nicht.“ Da Krankenkassen die Daten über Arztbesuche nicht herausgeben dürfen, versuchen die Ärzte in solchen Fällen, Ausnahmen zu erwirken. Schließlich verlangte das Jugendamt einen Gerichtstermin: Die Richterin war schockiert. Direkt aus dem Gerichtssaal brachte man das Kind zu Pflegeeltern, wo es jetzt lebt. Geschlossen ist die Akte aber immer noch nicht. Derzeit kämpfen Charité und Jugendamt auf der einen und die Mutter auf der anderen Seite um Melinda. Lisbeth Göttling will nicht ablassen vom Objekt Tochter. Wie es ausgeht, ist ungewiss. „Wenigstens haben wir das aktenkundig gemacht“, sagt Wiefel. Ein kleiner Trost.

Literatur: Julie Gregory: Du hast mich krank gemacht. Ehrenwirth 2004, 18 Euro.

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