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Suchen Sie sich Ihren Lieblingsschauspieler aus, wie zum Beispiel Charly Hübner (vorne re.). Wenn Regisseur Jan Georg Schütte (vorne li.) anfragt, sagt keiner ab.

© WDR/Wolfgang Ennenbach

Impro-TV-Film im Ersten: Verlorene Illusionen: Alptraum "Klassentreffen"

Wenn die alten Macken wieder zum Vorschein kommen: Jan Georg Schütte schickt Deutschlands beste Darsteller ins Klassentreffen.

Na? Und du? Wie viele Kinder? Welcher Beruf? Am besten noch: Wieviel verdienst du? Wer kennt sie nicht, die Fragen, wenn du nach 20, 25 Jahren mit demselben Leuten in einem Raum stehst wie in der Schule. Wenn bei Gesa, Marion, Thorsten, Sven, Stefanie, Krischi oder Astrid, alle jetzt Mitte 40, die alten Macken wieder zum Vorschein kommen. Alptraum Klassentreffen.

Jan Georg Schütte hat daraus einen Fernsehfilm gemacht, und was für einen. Allein die Schauspielerliste: Charly Hübner, Annette Frier, Burghart Klaußner, Nina Kunzendorf, Marek Harloff, Fabian Hinrichs, Jeanette Hain, Anna Schudt, Elena Uhlig, Oliver Wnuk, Anja Kling – selten waren so viele erstklassige Darsteller im TV-Film versammelt. Wenn Schütte anruft, sagt keiner nein. Diese Herausforderung: ein Film ganz ohne Drehbuch.

Der Regisseur lässt seine Schauspieler einfach drauflos spielen, wobei das nicht mit planloser Improvisation verwechselt werden sollte. Alle Darsteller bekommen ein Rollenprofil. Dem liegt, Stichwort Typologie, genaue Recherche und Menschenkenntnis zugrunde, ähnlich wie bei Regisseur Andres Veiel vor Jahren bei seinem Generationenporträt „Die Überlebenden“, worin Veiel den Biografien von drei ehemaligen Klassenkameraden nachgeht, die sich in den 80er Jahren das Leben genommen haben.

Im „Klassentreffen“, so viel sei verraten, stirbt niemand. Gewaltig, ergreifend ist es trotzdem. Schüttes Schauspieler wissen, wer sie sind, wie ihr jeweiliger Charakter tickt. Es ist, als ob ihnen das fehlende Drehbuch zu noch mehr Authentizität, zu noch mehr Einfühlung verhilft. Rollen, aus denen alles heraus geholt werden kann. Das haben die Schauspieler, die zuletzt in Talkshows für diesen Film Werbung machten, immer wieder betont: Da war Angst, Herausforderung und Begeisterung zugleich. Ein bisschen wie vor jedem Klassentreffen.

Schütte, der schon Erfahrung mit Filmen ohne Drehbuch hat (für „Altersglühen“ erhielt er 2015 den Grimme-Preis) hat den Film in einem leerstehenden Gasthof in Köln-Hürth gedreht. 2600 Meter Kabel wurden verlegt, 32 Kameras im Einsatz, 24 Kameraleute. Die Klappe für den Dreh fiel nur ein Mal, am Anfang. Nach vier Stunden, zwölf Minuten war Schluss. Bis aus dem Riesenfilmmaterial, das die Kameras aufgezeichnet hatten, im Schnittraum ein Film wurde, vergingen elf Monate. Ein Mammutwerk. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: ein ganz und gar gelungenes Experiment (da haben andere TV-Filme ohne Drehbuch wie der „Tatort – Babbeldasch“ schon ganz anders abgeschnitten).

Zum Beispiel auch wegen Charly Hübner. Hübner ist Krischi, Schuhfabrikant am Niederrhein, verheiratet, vier Kinder, rechtskonservatives Weltbild. Damals war er heimlich in Stefanie (Anja Kling) verliebt. Wenn sich daraus etwas entwickelt hätte, wäre er wohl ein ganz anderer geworden. Hätte, wäre, könnte. Auch bei Kida Kohdr Ramadan als Ali, ein Tierarzt. Mit 500er-Scheinen in der Hose tänzelt der Geldprotz durchs Lokal. Früher war er Krischis bester Freund, heute widern ihn dessen rechte Thesen an. Ali nennt Krischi „Nazi“. Sehr plakativ, vielleicht der einzige Schwachpunkt in dem ansonsten grandiosen Film.

Kalt lassen kann das keinen. Identifikationspotenzial gibt’s reichlich. Da ist die Resolute (Anna Schudt als Astrid, die nicht weiß, mit wem aus der Klasse sie damals nicht geschlafen hat), der Schüchterne (Harloff als erfolgloser Musiker, der Taxi fährt), der verkappt-schwule Familienvater Ulli (Guido Renner) mit seinem späten Coming-Out . Im Kontrast dazu: Fabian Hinrichs als arroganter Sven, vor 25 Jahren das „Arschloch“ der Klasse, jetzt mit Kanzlei in Los Angeles.

Oder Aurel Manthei als Andi, der melancholische Loser, der damals wegen eines einzigen fehlenden Punktes durchs Abi gefallen und danach ewig erfolglos war. Auch hier die späte Decouvrierung einer Liebe. Andi war hoffnungslos in Marion (Jeanette Hain) verliebt, ist es noch immer. Leider lebt spooky Marion in ihrer eigenen Welt, wahrnehmungsgestört.

Verlorene Illusionen, Schein und Sein. Ein später Abgleich. Das macht ja den Reiz all dieser Klassentreffen aus. Am Ende entlässt Regisseur Schütte seine Figuren in die Nacht. Und seine Zuschauer mit einem ratlos-beklemmenden Gefühl. Ist das Komödie? Tragödie? Ein Alptraum? Auf jeden Fall großes Fernsehen.

„Klassentreffen“, Mittwoch, ARD, 20 Uhr 15

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