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Alles auf Ex! Die finale Staffel von „Berlin – Schicksalsjahre einer Stadt“ kommt ohne die ehemaligen Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (links), Eberhard Diepgen (Mitte) und Michael Müller nicht aus.

© Annette Ried/dpa

TV-Denkmal über Berlin: „Geschichte in Geschichten auflösen“

Finale bei der RBB-Reihe „Berlin – Schicksalsjahre einer Stadt“: Gespräch mit Autor und Regisseur Tim Evers.

Herr Evers, "Berlin - Schicksalsjahre einer Stadt" geht mit der Dekade 2010 bis 2020 ins Finale. Sie waren an der Reihe intensiv als Autor und Redakteur beteiligt. Treibt Ihnen das Ende Tränen in die Augen?

Bitte nicht beschreien - womöglich stellt sich tatsächlich noch eine gewisse Rührung ein. Die Schicksalsjahre waren ein einzigartiges Projekt - uns Macherinnen und Machern gaben sie Gelegenheit, sehr tief in die Geschichte der Stadt hinabzuklettern. Mit einer Gründlichkeit, die das Format erforderte und die sich manchmal wie eine Zeitreise anfühlte. Sich tagelang durch die Berichterstattung aus dem Jahr 1964 zu gucken - das macht was mit einem…

Insgesamt werden sich die 64 Teile zu 5760 Sendeminuten addieren. Mit welchem Ansatz ist es den Verantwortlichen gelungen, einen roten Faden durch diese Herausforderung zu ziehen? Geschichte in Geschichten auflösen? Genau das: Geschichte in Geschichten aufzulösen, das "große" Stadt-Schicksal in vielen Einzel-Schicksalen zu spiegeln. Und aus diesen verschiedenen Perspektiven wie in einem Puzzle das große Ganze zusammenzusetzen. Wichtig war dabei, immer "kleinen" Alltag und "große" Welt-Geschichte zusammenzudenken - wie hat es sich angefühlt, zu einer bestimmten Zeit in Berlin zu leben? Dazu gehört natürlich, was politisch los war, aber auch, wie man beispielsweise als junger Mensch eine Wohnung gefunden hat, welche Musik angesagt war, oder - großes Thema in der "Abendschau" über die Jahre - ob die Schrippen schon wieder teurer geworden sind.

Tim Evers ist Fernsehjournalist und Filmemacher. Für die RBB-Reihe „Berlin – Schicksalsjahre einer Stadt“ hat er als Autor und Regisseur mehrere Beiträge produziert.

© Foot: Greta Evers

Das verfügbare Material ist ja von Jahr zu Jahr gewachsen, nehmen wir nur mal die 365 "Abendschauen" pro Jahr zum Beleg. Welche Anstrengung war notwendig, um von der Unmenge an Bild und Ton nicht erdrückt zu werden? Wie ist das durchschnittliche Verhältnis von Archiv- zu neu gedrehtem Material in einer Folge?

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Wir drehen nur die Interviews neu, ansonsten bestehen die Filme aus dem, was RBB (und DRA) über die Jahrzehnte in ihren Archiven gesammelt haben. Und das ist ein Schatz, mit dem man wuchern kann. Tatsächlich konnte man für die Filme über die 60er Jahre noch das gesamte gesendete, verfügbare Material durchgucken - das ging später nicht mehr. Da begann die Arbeit damit, nach Stichworten zu suchen, die mit den Themen und Geschichten zusammenhängen.

Aber eine besondere Stärke der Schicksalsjahre bestand für mich immer darin, dass man in den Filmen wirklich die Stadt zu einer bestimmten Zeit erleben kann - als würde man sich in ihr bewegen. Und dafür braucht man: Stadtbilder! Dieses Wort hat unter uns Schicksalsjahre-Machern eine geradezu mythologische Bedeutung erlangt. Denn so ein 90-Minüter braucht jede Menge davon... Wie einem neunköpfigen Drachen muss man ihm immer neue Bilder in den Schlund werfen.

[„Berlin –Schicksalsjahre einer Stadt“, RBB, Samstag, 20 Uhr 15]

Hat sich die Perspektive der Macher auf diese große Stadt über die Jahrzehnte verändert?
Ich glaube, wir haben alle dazugelernt. Geschichte surrt ja im Rückblick oft zu einem Datum, einem Bild, einem Schlagwort zusammen. In den Schicksalsjahren konnten wir genauer, detailreicher erzählen. Ich habe mich zum Beispiel für einen Film intensiv in die Details der Trennung des Berliner Straßenbahn-Netzes in den 50er Jahren eingelesen - faszinierend!

Die "Schicksalsjahre" bieten Rückblicke. Rückblicke sind meistens verklärend. Wie groß war die Gefahr, sich ins Pathos zu verlieren, wo nicht wenige glauben, in einem "failed state" leben und arbeiten zu müssen?
Vor falscher Verallgemeinerung schützt die Genauigkeit - durch das multiperspektivische Erzählen stehen bei den Schicksalsjahre immer verschiedene Sichtweisen, Milieus, Generationen nebeneinander. Und Fernsehen zu machen, ist ein Gemeinschaftsprozess, man arbeitet nicht allein, sondern im Team und ist insofern zwangsläufig permanent im Austausch - mit der Redaktion, den Kameraleuten, Schnittmeistern etc.. Da wird die eigene Sicht immer wieder herausgefordert und hinterfragt.

Schicksal ist das, was uns passiert

"Schicksalsjahre" ist ja eine monumentale Zuschreibung. Ist das nicht ein wenig übertrieben, waren beispielsweise 1995 oder 2017 wirklich "Schicksalsjahre" für Berlin?
Schicksal ist das, was uns passiert. Das Wort lässt sich ja in unterschiedlicher Weise verwenden. Natürlich waren die Jahrzehnte der Teilung "Schicksalsjahre" in ganz besonderer Form - allerdings gilt das in meinen Augen genauso auch für die 90er Jahre, in denen Berlin mit den Nachwirkungen dieser Teilung zu kämpfen hatte.
Und auch in den folgenden Dekaden zeichnen die Filme Entwicklungen im Stadtleben nach, schildern Einschnitte, auf die das Wort zutrifft: 2017 zum Beispiel hat die Stadt mit den Folgen des Terroranschlags auf dem Breitscheidplatz zu tun - mit immer neuen Enthüllungen über die Hintergründe. Oder - eine ganz andere Geschichte, und kaum weniger schicksalhaft und relevant: 2017 erzählt uns eine Frau, wie sie nach 63 Jahren, die sie als Mann lebte, den Prozess einer Geschlechtsangleichung vollzogen hat. Aus Heinz Nabrowsky wurde Doris Nabrowsky. Ihr Mut, ihre Kraft und ihre Art darüber zu sprechen haben mich sehr beeindruckt.

Jens Bisky schreibt in seinem Buch "Berlin. Biographie einer großen Stadt", sie sei "ein einzigartiges Durchkreuzungs-, Vermischungs- und Attraktionsphänomen". Gehen Sie da mit?
Absolut. Das wäre glatt eine eigene ethnologische Betrachtung wert... In den "Schicksalsjahren" kann man das wunderbar beobachten: Wie zu jeder Zeit junge Leute in diese Stadt gekommen sind - die entweder vor sich fliehen oder zu sich selbst finden wollten. Und nicht zufällig sind es sehr oft "Zugezogene", die hier etwas auf die Beine stellen…

Das Publikum hat die Reihe mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Wie waren die Reaktionen, zumeist positiv oder auch negativ, weil jeder und jede ja sein/ihr eigenes Berlin-Bild, Berlin-Gefühl hat?
Die Resonanz war schon sehr positiv. Aber natürlich gab es vereinzelt auch Stimmen von Zuschauenden, die "ihr Berlin" nicht richtig dargestellt fanden: Zu wenig Hertha, zu viel Union. Oder andersrum: Zu wenig Osten, zu viel Westen. Aber auch das zeigt ja, dass die Leute mitgegangen sind und sich zum Gesehenen in Beziehung gesetzt haben: Dass sie sich und ihr Leben in den Filmen gesucht und manchmal vielleicht auch wiedergefunden haben

Berliner sind sich der Bedeutung Berlins bewusst

Theodor Fontane hatte notiert: "Vor Gott sind eigentlich alle Menschen Berliner." Eine Sentenz, die sich durch die RBB-Reihe als prägnante Weisheit behaupten kann?
Für eine Reihe wie die "Schicksalsjahre" ist es erstmal ein großes Glück, dass die Berliner sich grundsätzlich schon der eigenen - selbstverständlich enormen - Bedeutung ihrer Stadt bewusst sind. Dadurch findet man immer auch gute Gesprächspartner, die etwas zu erzählen haben. Aber vielleicht lauert auch hier schon wieder die Gefahr der Verklärung: Anspruch der "Schicksalsjahre" war es ja gerade, jenseits solcher Schlagworte wie dem von der "Stadt, die niemals ist und immer wird" vom konkreten, realen Leben der Menschen hier zu erzählen, durch alle Brüche und Erschütterungen hindurch.

Nun ist der RBB die ARD-Anstalt für Berlin und Brandenburg. Lässt sich eine solche Anstrengung auch für die Mark vorstellen? Der Brandenburger sieht sich beim RBB-Fernsehen stets und gerne in der zweiten Reihe.

Bei mir als gebürtigem Brandenburger rennen Sie damit offene Türen ein… Allerdings hat der RBB und die Redaktion der "Schicksalsjahre" genau so etwas schon gemacht: Die "Chronik eines Landes" anlässlich von 30 Jahren Brandenburg. Das hatte natürlich noch nicht ganz den Umfang der Schicksalsjahre - aber die Brandenburger wollen ohnehin keine Berliner Kopie. Die brauchen was eigenes!

Das Interview führte Joachim Huber.

Tim Evers ist Fernsehjournalist und Filmemacher. Für die RBB-Reihe „Berlin – Schicksalsjahre einer Stadt“ hat er als Autor und Regisseur mehrere Beiträge produziert.

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