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Mit dem Ziel vor Augen. Ausdauerjournalismus ist wie der Marathon, bei dem man die Strapazen auf dem Weg aushält.

© Getty Images

Journalistenpreis „Der lange Atem“: Auf der Spur bleiben

Sie sind die Langstreckenläufer:innen unter den Medienschaffenden: Warum wir ausdauernde Journalist:innen für eine funktionierende Demokratie brauchen.

Georg Löwisch, 47, ist Chefredakteur von Christ & Welt in der ZEIT. Er arbeitet seit vielen Jahren bei „Langem Atem“ in der Jury mit.

Ein Fernsehfilm berichtet, wie Menschenhändler junge Vietnamesen durch Europa schleusen und wie diese ausgebeutet werden: Gleich Arbeitssklaven müssen sie in Nagelstudios oder Restaurants schuften. Ein Zeitungstext erzählt von rechtsradikalen Polizisten im Deutschen Bundestag. Sie arbeiten dort, obwohl sie den Staat und somit das Parlament ablehnen, die sie doch schützen sollen. Ein Podcast rekonstruiert in sieben Folgen den tragischen Weg eines Brandenburger Jungen, der in der Schule nicht klarkam und in die Mühlen eines Jugendamtes geriet.

Fernsehen, Zeitung, Podcast. Das erste Thema ist global, das zweite spielt in der Hauptstadt, das dritte betrachtet einen regionalen Fall im Landkreis Oder-Spree. Der Journalismus ist die vierte Gewalt in einer Demokratie. Wenn Journalist:innen die Kontrolle der Politik oder auch der Unternehmen übernehmen sollen, die Kontrolle von Behörden oder auch von Kirchen, dann dürfen sie nicht nur kurz hinschauen. Jene, die ihre Aufgabe in der Demokratie wirklich ernst nehmen, dürfen nicht von einem Thema zum nächsten springen. Sie bleiben, wenn die anderen schon ihre Sachen gepackt haben und decken dadurch auf, was sonst vielleicht verborgen bliebe.

Diese Journalist:innen will der DJV Berlin, der Journalistenverband Berlin-Brandenburg, am heutigen Donnerstag wieder auszeichnen, mit einem ungewöhnlichen Preis. Seine Idee liegt schon im Namen: Der lange Atem. Denn das Wichtigste dabei ist, dass einem die Luft nicht ausgegangen ist. Dass er oder sie, oder auch ein Team, nicht nur die 100 Meter gesprintet, sondern den Marathon gelaufen ist. Den Preis „Der lange Atem“ bekommen die Langstreckenläufer:innen im Journalismus, die Ausdauersportler.

Sie nutzen ihre Kraft nicht zur Selbstdarstellung

Ausdauer heißt Ausdauer, weil man sie für Dinge braucht, die dauern. Und weil man die Strapazen auf dem Weg trotzdem aushält. In manchen Fällen sogar die Frage, ob man als freie Journalistin oder als freier Reporter für eine Recherche überhaupt einen Abnehmer findet und bezahlt wird.

Am Abend der Preisverleihung in der Akademie der Künste gleich am Brandenburger Tor erzählen traditionell die neun Nominierten auf der Bühne von ihrer Arbeit. Und so unterschiedlich ihre Themen, ihre Medien und sie selbst auch sind – jedes Jahr ist völlig klar, dass diese Journalistinnen und Journalisten unbedingt hierhin gehören. Eine Autorin zum Beispiel, die erklärte, wie sie in Süddeutschland einen ruandischen Kriegsverbrecher ausfindig gemacht hatte. Sie berichtete mit ihrem Kollegen acht Jahre, 33 Artikel und mehr als 300 Gerichtstermine lang. Ein Redakteur schilderte, wie er abends im Bundestag vor der Ausschusssitzung zum US-Geheimdienst NSA wartete, als kein anderer Journalist mehr da war. Eine Radioreporterin beschrieb, wie die Teenagermutter Mandy und ihr Sohn Jonny älter wurden und Probleme meistern mussten – auch diese Recherche dauerte acht Jahre lang.

Die Glitzersternchen des Journalismus sind beim „Langen Atem“ eher nicht zu sehen, jene Medienmacher, die selbst gerne das Rampenlicht suchen und sich für die größte Sensation halten. Manche der Nominierten wirkten in der Vergangenheit fast scheu, wenn der Moderator sie zu ihrem Projekt befragte. Die Preisverleihung war eher ein öffentliches Werkstattgespräch. Vielleicht hat diese Art Journalistinnen und Journalisten auch deshalb einen langen Atem, weil sie bescheiden sind und ihre Kraft nicht zur Selbstdarstellung nutzen.

Lesen, gucken, hören – tagelang

Einzige Bedingung, neben der Ausdauer: Die Autor:innen müssen in Berlin oder Brandenburg arbeiten. Erst sichtet eine Vorjury die Arbeiten: etwa ein Dutzend erfahrene Journalist:innen, darunter auch immer einige, die schon selbst einmal mit dem „Langen Atem“ ausgezeichnet wurden. Und auch sie brauchen die Ausdauer.

Denn anders als bei anderen Preisen, wird ja nicht nur ein Text oder ein Fernsehfilm begutachtet. Ein Thema kann etliche Zeitungsartikel umfassen, Audiodateien mit mehreren Stunden Podcast oder Videoverzeichnisse voller Magazinbeiträge. In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Einreichungen gewachsen. Als der Preis 2007 zum ersten Mal verliehen wurde, bewarben sich noch 38 Einzelne oder Teams. 2022 starteten 67 Arbeiten. Immer zwei oder drei Mitglieder der Vorjury befassen sich mit einer Einreichung besonders intensiv.

Die Vorjury übergibt eine Liste von neun Arbeiten an die Jury, der Chefredakteur:innen und Redaktionsleiter:innen angehören. Auch sie müssen lesen, gucken, hören. Tagelang. Mit Ausdauer. Dann treffen sie sich. Sie analysieren, argumentieren und plädieren. Bei Arbeiten aus dem eigenen Laden hält man sich zurück. Am Schluss wird abgestimmt.

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Aber wie vergleichen die Mitglieder der Jurys nun die höchst unterschiedlichen Arbeiten? Dafür wurden vier wichtige Kriterien entwickelt:

Erstens Ausdauer: Wie lang ist der Zeitraum, über den die Autor:innen recherchiert haben? Wenn der Zeitraum kürzer ist als zwei Jahre: War die Recherche ganz besonders intensiv oder aufreibend?

Zweitens Relevanz: Handeln die Berichte von einem für die Gesellschaft bedeutsamen Thema? Hatte die Arbeit einen Effekt?

Drittens Qualität: Sind die Veröffentlichungen sprachlich stark, dramaturgisch eindrucksvoll oder besonders originell gestaltet?

Viertens Bedingungen: Wie außergewöhnlich ist die Berichterstattung gemessen an den Arbeitsbedingungen der Autor:innen? Sind sie fest angestellt oder freischaffend? Mussten Widerstände beispielsweise in Behörden überwunden werden?

Auch der Ausdauerjournalismus verdient Medaillen

Die Kriterien sind zumindest eine Orientierung. Uns Juroren helfen sie auf jeden Fall, den Schmerz zu lindern, dass nur drei der Nominierten einen Preis bekommen sollen. Bisweilen kommen Qualitäten hinzu, die sehr gut auf den Gedanken des langen Atems passen, aber nicht von den bisherigen Kriterien erfasst sind. Beispielsweise ist dieses Mal eine von Journalisten entwickelte Software dabei. Sie durchkämmt gigantische Mengen medizinischer Fachartikel – und zeigt Ärzte, die von Pharmafirmen Geld einstreichen, aber dies nicht transparent machen, wenn sie deren Produkte wissenschaftlich beurteilen.

Methode – so könnte ein weiteres Kriterium heißen: Basiert die Arbeit auf einer hervorstechenden Art zu recherchieren? Ist eine Innovation gelungen?

Die Kriterien ergeben ein Verständnis davon, was guter Journalismus sein kann. Der lange Atem ist ein Statement von Journalist:innen über den Journalismus. Klar, auch in einem perfekten Fernsehporträt steckt unendlich viel Arbeit. Und der geniale Essay entsteht ebenfalls nicht in zwei Stunden. Aber dann gibt es eben diesen Ausdauerjournalismus, den Geländelauf, bei dem man nicht nur schwitzt, sondern auch dreckig wird. Oder den Marathon. Dort applaudiert das Publikum, Musik spielt und Jubel brandet auf, wenn die Läuferinnen und Läufer auf die Zielgerade einbiegen. Es gibt Medaillen und stolze Gesichter. Auch der Ausdauerjournalismus hat das verdient. Und dafür wurde „Der lange Atem“ erfunden.

Georg Löwisch

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