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Made in USA. Laut Alberto Grandi ist die Spaghetti Carbonara eine Erfindung der Amerikaner.

© Montage: Tagesspiegel/Schneider | Adobe Stock (2)

Mythos italienische Küche: „Die Sache ist krankhaft geworden“

Der Historiker Alberto Grandi sagt: Die traditionelle Landesküche Italiens ist weit weniger authentisch als behauptet. Mit seiner Forschung macht er sich illustre Feinde.

Mit seinen Thesen stürzte Alberto Grandi das kulinarische Italien – also das ganze Land – jüngst in eine Identitätskrise. Kann es sein, dass ausgerechnet die Amerikaner den römischen Klassiker Spaghetti Carbonara erfunden haben, dass man wirklich traditionell hergestellten Parmesan in Wisconsin findet und Cappuccino ohne die Deutschen kaum in Italien getrunken würde? Grandi ist Historiker, forscht an der Universität Parma, beschäftigt sich mit den Mythen, die das Essen umgeben, und wie sie die Identität prägen.


Herr Grandi, der Historiker Eric Hobsbawm prägte den Begriff „erfundene Traditionen“. Berühmtestes Beispiel sind die vermeintlich uralten Schottenmuster, die erst 150 bis 200 Jahre alt sind. Wie verbreitet ist das Phänomen, wenn es ums Essen geht?
Das ist weltweit üblich. Schließlich ist Essen identitätsstiftend. Nehmen Sie die jüdische koschere Küche.

Gerade die kann doch auf eine schriftlich nachweisbare, lange Tradition verweisen.
Durchaus. Aber auch dort wird versucht, die Wurzeln einzelner Rezepte und Gerichte stark in die Vergangenheit hinein zu verlängern. Oder nehmen Sie die Hotdogs in den USA. Bis zum Ersten Weltkrieg hießen sie Frankfurter. Unter ihrem neuen Namen wurden sie Symbol amerikanischer Identität.

Als ich wagte zu sagen, dass die Pasta alla Carbonara amerikanisch ist, war die Hölle los.

Alberto Grandi, Historiker an der Universität Parma

Und in Italien?
In Italien ist die Sache schlicht krankhaft geworden. Das zeigen die Reaktionen auf mein Interview. Als ich wagte zu sagen, dass die Pasta alla carbonara amerikanisch ist, war die Hölle los.

Jäger kulinarischer Mythen: Der Historiker Alberto Grandi.

© privat

Zur Erläuterung: Ihrer Forschung zufolge erfanden italienische Auswanderer die „Carbonara“, indem sie alles in die Sauce warfen, was es in der neuen Heimat gab, Speck, Eier. Aber könnte die Heftigkeit der Attacken auf Sie auch ökonomische Gründe haben? Die weltweit geschätzte italienische Küche ist schließlich ein Wirtschaftsfaktor.
Sicher. Aber Coldiretti zum Beispiel, Italiens Bauernverband, der mich so heftig angegriffen hat, bläst die Bedeutung des Sektors auf. Dass die Lebensmittelproduktion ein Viertel des italienischen Bruttoinlandsprodukts ausmacht, ist sicher übertrieben. Es geht ihnen aber nicht nur um Zahlen.

Sondern?
Coldiretti besteht darauf, das Thema zu besetzen. Wer immer über italienisches Essen spricht, soll das ausschließlich über sie tun. Das hat man mir sogar vor laufender Kamera klar gemacht: Sie bringen die Leute durcheinander, hieß es, und stellen gesichertes Wissen infrage. Italienisches Essen ist das beste und war es immer. Mit andern Worten: Man wirft mir vor zu forschen. Das ist schließlich Sinn von Forschung: angeblich sicheres Wissen zu prüfen.

Für Sie ist Italiens Küche nicht die weltbeste?
Man isst gut hierzulande, aber man isst auch schlecht. Sogar den Belgiern wollen wir das gute Essen beigebracht haben. In Belgien hat man aber viel besser gegessen als in Italien, noch zu Zeiten, als wir unsere jungen Leute in die belgischen Bergwerke schickten – erinnern wir uns an das Unglück von Marcinelles 1956, bei dem die Hälfte der 275 Opfer italienische Immigranten waren. Und darüber, was vor ein paar hundert Jahren Maria de‘ Medici oder Giovanni Pico della Mirandola gegessen haben, wissen wir nicht viel. Das wenige, was wir wissen, ist ziemlich ekelhaft.

Sie stellen ja noch viel mehr infrage, nämlich dass es überhaupt Authentizität gibt. Essen sei immer Kontamination, sagen Sie.
Ja, absolut. Und ich gehe noch weiter: Der Versuch, ein Rezept für immer zu zementieren, ist schon die Vorstufe dafür, dass es mit ihm zu Ende geht. Wer dekretiert, dass die Pasta alla carbonara nur so und nicht anders gemacht wird, der bringt das Produkt um.

Alles Käse? Wirklich authentischen italienischen Parmesan bekomme man in Wisconsin, sagt Alberto Grandi.

© Getty Images/iStockphoto/Marc_Espolet

Gibt es da Beispiele?
In Ligurien schaffte man es 2015, Herstellung und Vertrieb der Foccaccia di Recco strikt auf den Ort Recco zu begrenzen. Die Hoffnung war natürlich, Tourismus nach Recco zu locken. Das hat nicht funktioniert, und weil der Name andernorts verboten ist, gibt es nun vielleicht noch das Produkt, ein flaches, mit Käse gefülltes Brot. Aber nicht mehr den Namen.

Der Soziologe Richard Sennett spricht in seinem Buch „Handwerk“ vom impliziten Wissen, das nie komplett weitergegeben werden kann. Die Geigenwerkstatt von Stradivari in Cremona sei deswegen mit ihm untergegangen, die Qualität hätten seine Nachfolger nicht wieder erreicht.
Wissen Sie, dass ich mit dem Geigenbau in Cremona meine Forschung zur Küche begonnen habe?

Klingt nicht komplett selbstverständlich. Wie kam das?
Ich habe darüber geforscht, wie lokaler wirtschaftlicher Erfolg entsteht. Und wurde dabei auf den Geigenbau aufmerksam. Cremona ist heute das Weltzentrum des Geigenbaus, und es wird behauptet, diese Tradition gehe direkt auf Stradivari zurück, den genialsten Geigenbauer seiner Zeit. Das stimmt aber nicht. Er starb sehr alt, 1737, als seine Söhne selbst bereits tot waren. Mit ihm war auch der Geigenbau in Cremona zu Ende. Für zwei Jahrhunderte.

Wie kam er zurück?
Anlässlich des 200. Todestags von Stradivari beschloss Roberto Farinacci, ein hoher faschistischer Hierarch, den Geigenbau wieder in Cremona anzusiedeln. Er musste dafür Geigenbauer aus Mailand und aus Deutschland holen, in Cremona konnte kein Mensch mehr Geigen bauen. Er hat mit einer erfundenen Tradition Geschichte gemacht. Auch über Farinacci, einen der Brutalsten des Faschismus, könnte man also sagen, wie es so oft von Mussolini behauptet wird: Es war nicht alles schlecht.

200
Jahre gab es in Parma keinen Parmesan.

Ist dieser Zusammenhang in Cremona und darüber hinaus bekannt?
Er ist völlig aus der Erinnerung gelöscht. Und ich nehme an, dass die aktuelle Regierung in Rom, die dem Wirtschaftsministerium auch die Verantwortung fürs „Made in Italy“ in den Namen geschrieben hat, keine große Lust haben wird, daran zu erinnern.

Sie müssen noch erklären, wie sie von dieser Geschichte zur italienischen Küche kamen.
Ich merkte, dass dieser Prozess auch in der Küche und der Gastronomie funktioniert: Man bezieht sich für ein neues Storytelling auf eine mythische Vergangenheit. Der Parmesan hat in diesem Zusammenhang eine interessante Geschichte. Auch er war 200 Jahre verschwunden.

Den Hinweis auf diese Geschichte wurde Ihnen vom Consorzio del Parmigiano, der Erzeugergemeinschaft, ebenfalls übelgenommen.
Sie verweisen gern auf die alte Geschichte des Käses und dass er schon von Boccaccio erwähnt wird. Das stimmt soweit. Aber was das Consorzio nicht sagt, ist, dass er im 17. Jahrhundert aus den Dokumenten verschwindet. Den Parmesan selbst gibt es vermutlich Ende des 17. Jahrhunderts nicht mehr. Er wird in Parma nicht mehr hergestellt, in der übrigen Po-Ebene allerdings schon.

Er war ziemlich fett, weich, außen dank seiner Wachshülle komplett schwarz.

Alberto Grandi über ursprünglichen Parmesan

Und kommt wodurch nach Parma zurück?
Dank Napoleon. Der hatte von einem leicht konsumierbaren Käse in Parma gehört und bat den Mathematiker Gaspard Monge, mit dem er befreundet war, etwas darüber herauszufinden. Der meldete zurück, dass es in Parma nicht einmal Kühe gäbe. Man habe ihn aber auf Lodi verwiesen. Und tatsächlich findet er dort einen Käse und nennt ihn in seinen Aufzeichnungen „Fromage lodisain, dit parmésan, also „auch Parmesan genannt“. Der sah aber vermutlich sehr anders aus als der heutige: Er war ziemlich fett, weich, außen dank einer Wachshülle komplett schwarz. Der Laib war zwischen 10 und 15 Kilogramm schwer, vielleicht auch leichter. Vom Ende des 19. Jahrhunderts haben wir entsprechende Fotos.

Was lernen wir daraus?
Dass sich der Name erhalten hat, nicht aber das Produkt. Und dass die Erzeugergemeinschaft sich auf eine angeblich uralte Tradition und Kontinuität des Produkts bezieht, die es nicht gibt.

Dafür gibt es eine US-Tradition des Parmesans, sagen Sie. Der beste werde in Wisconsin gemacht.
Dorthin wurde er vor etwa hundert Jahren von italienischen Migranten gebracht. Coldiretti würde das zu einem Fall von „Italian Sounding“ erklären. Aber das stimmt nicht. Dieser Parmesan ist authentisch italienisch. Und das Spannende ist, dass er sich nach seiner Verpflanzung nach Wisconsin dort nicht weiterentwickelt hat. Wenn wir also wissen wollen, wie Parmesan vor hundert Jahren aussah und schmeckte, müssen wir nach Wisconsin fahren, nicht nach Parma.

Mythos Cappuccino: Brachten die deutschen Touristen die Milch in den italienischen Kaffee?

© Imago/Cavan Images

Welche Nationen außer den USA sind denn noch die wahren Eltern typisch italienischer Gerichte?
Womöglich die Deutschen. Ich bin noch am Anfang meiner Recherchen, aber es gibt starke Hinweise, dass das, was wir heute unter italienischer Küche verstehen, in den Touristenzentren der Emilia-Romagna in den 1960er- und 70er-Jahren entstanden ist. Natürlich nicht allein über Deutschland, aber westdeutsche Touristen waren damals in Rimini, Cattolica, Riccione stark vertreten.

Mit welcher Folge?
Die Hotels tischten für ihre Gäste damals recht standardisierte Menüs auf, an einem Abend Spaghetti al pomodoro, am anderen eine bestimmte kalte Platte, den ganzen Sommer über. Das hat bei den ausländischen Gästen den Eindruck entstehen lassen, das sei sie, die italienische Küche.

In den Augen der Gäste, aber doch nicht in Italien.
Auch dort. In Zeiten des Massentourismus kommt diese Vorstellung von authentisch italienischem Essen über die Nachfrage ins Land zurück. Die Touristen verlangen, was sie kennen, und irgendwann glauben wir Italiener selbst, dass das unsere nationale Küche sei. Der Cappuccino zum Beispiel ist ganz sicher durch den Tourismus entstanden, durch den Kontakt der italienischen Kaffeekultur mit dem Wunsch – möglicherweise der Deutschen – nach Milch dazu.

Wir verlängern angebliche Traditionslinien gleich bis zu Lucrezia Borgia und Lorenzo dem Prächtigen

Alberto Grandi über italienische Mythenbildung

Seit einem halben Jahr hat Italiens Wirtschaftsministeriums die Verantwortung fürs „Made in Italy“ im Namen. Und nun sagen Sie, dass es das gar nicht gibt?
Ich möchte eigentlich nur wissen, was wir unter „Made in Italy“ verstehen und würde mir wünschen, dass darüber mit etwas mehr Ernst geredet wird. Italien ist ein großes Industrieland, auf einigen Feldern gehören wir zur Spitzenklasse. Müssen wir „Made in Italy“ vom Parmesan abhängig machen oder vom Lardo di Colonnata? In Parma gibt es außer Käse etliche große Nahrungsmittelunternehmen, den Nudelhersteller Barilla, die Keksfabrik Mulino Bianco, die Firma Mutti, die Tomatenkonserven produziert. Parmesan und Grana Padano sind heute industriell hergestellte Produkte. Das macht sie übrigens nicht schlechter.

Sie haben zum Thema Authentizität ein Buch geschrieben: „Denominazione d’origine inventata“, also „erfundene Herkunftsbezeichnung“ statt kontrollierter. Haben Sie auch etwas gegen das DOC-Siegel?
Ja und nein. Es war vernünftig von Brüssel, auf dem gemeinsamen Markt bestimmte lokale Produkte zu schützen, indem man sie vor Konkurrenz bewahrte. Nur leider ist das in Italien wieder pathologisch geworden. Die EU fordert mindestens 25 Jahre Geschichte für ein Produkt, um es als typisch zu schützen. Aber wir verlängern angebliche Traditionslinien dann gleich bis zu Lucrezia Borgia und Lorenzo dem Prächtigen.

Gab es eigentlich auch Beifall für Ihre Forschung, zum Beispiel von einer oder einem der großen Sterneköche?
Nur von einem, aber der war schon vorher ein Freund von mir. Die andern Großen haben mich sehr kritisiert. Eine wirklich schöne Reaktion erlebte ich aber in der Debatte um die Bologneser Tortellini ….

… in den Lega-Chef Matteo Salvini eingriff, der „Beleidigung unserer Traditionen“ witterte, als der Erzbischof von Bologna zu einem Essen einlud, bei dem die berühmten Tortelli mit Rücksicht auf andere religiöse Vorschriften mit Geflügel- statt Schweinefleisch gefüllt wurden.
Ich wies darauf hin, dass Geflügel die ältere Füllung der Tortellini sei. Der Präsident der „Consorteria del tortellino di Bologna“ bestätigte das: Ja, anfangs war kein Schweinefleisch drin. Ich fragte zurück: Warum muss ich das sagen, warum nicht ihr? Nun ja, ich habe mir dann gesagt: Besser spät als nie.

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