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Eine pro-palästinensische Demonstration in Düsseldorf.

© dpa/Christoph Reichwein

Gefahr durch islamistische Gruppen: „Es war falsch, die palästinensische Trauer zu unterdrücken“

Pro-palästinensische Demonstrationen hätten nicht dämonisiert werden sollen, sagt Ahmad Omeirat von den Grünen in Essen. Nun versuchten Islamisten, junge Muslime für sich einzunehmen.

Herr Omeirat, vergangenen Freitag fand in Essen eine pro-palästinensische Demonstration mit 3000 Menschen statt, bei der Teilnehmer islamistische Symbole und Banner zeigten sowie die Errichtung eines Kalifats forderten. Das hat bei vielen Menschen Angst ausgelöst. Hat Sie das als integrationspolitischer Sprecher überrascht? Oder ist da etwas ans Licht getreten, das schon lange unter der Oberfläche brodelt?
Diese Demo hat uns alle überrascht. Angemeldet wurde die Demonstration von einer Privatperson – unter dem Titel „Gaza unter Beschuss – gemeinsam gegen das Unrecht“. Als dann die ersten Bilder in den sozialen Netzwerken kursierten, war klar, dass da bestimmte vom Verfassungsschutz beobachtete Gruppierungen dahintersteckten, weil ganz bestimmte Social-Media-Profile genutzt wurden. Ich habe die Demo in der Essener Innenstadt beobachtet. Auffallend war sofort, dass fast keine Palästina-Flaggen zu sehen waren, sondern nur die Flaggen dieses irregeleiteten Spektrums, die ein Kalifat fordern.

Das war also keine gewöhnliche Pro-Palästina-Demonstration?
Nein, ich habe eine Nachbarin von mir gesehen, eine Palästinenserin, die seit mehr als 40 Jahren in Essen lebt. Sie sagte, dass die Organisatoren ihr verboten hätten, ihre Palästina-Flagge zu erheben. Wie viele andere hat sie die Demo verlassen, als sie gemerkt hat, mit wem sie da eigentlich unterwegs war. Die weite Mehrheit der Teilnehmer war sicherlich nicht aus Essen.

Mich hat das Ausmaß der Organisation erschreckt. Ich habe sehr viele Ordner gesehen, die zum Beispiel strikt darauf geachtet haben, dass es Geschlechtertrennung gibt. Ich glaube, Essen wurde explizit von dieser salafistischen Gruppierung – dahinter steckt unter anderem „Hizb ul Tahrir“ –, ausgesucht, weil sie bisher bei uns keine Geländegewinne gehabt hat. In Essen gibt es eine hervorragende Aufklärungsarbeit. Moscheen, Stadtverwaltung und Polizei sorgen seit vielen Jahren dafür, dass sich solche radikalen Gruppen bei uns nicht ansiedeln.

Was weiß man bisher über diese islamistischen Gruppierungen?
„Hizb ul Tahrir“ ist bekannt dafür, seinen Anhängern zu predigen, man dürfe keinen Job machen, der mit dem deutschen Staat, also öffentlichen Dienst, verbunden ist, selbst eine Busfahrer-Tätigkeit wäre laut ihrer Ideologie verboten. Was wir wissen, ist, dass diese Gruppierung zum ersten Mal in Essen öffentlich aufgetreten ist. Ihre Aktivitäten finden meist in den sozialen Medien oder in den salafistischen Hochburgen im Rheinland, Hamburg oder Berlin statt. Meist läuft es so ab: Eine Privatperson meldet eine Demo an, und dann taucht plötzlich die ganze Gefolgschaft auf. Es gibt davon auch diverse Untergruppierungen, die unter Namen wie „Generation Islam“  auftauchen. Mal gemeinsam mit wahhabitischen Gruppen, mal erleben wir, dass sie untereinander zerstritten sind und Streitigkeiten im Internet austragen.

Was sind das für Leute, die sich solch einer radikalen Truppe anschließen und einen islamistischen Gottesstaat mit strikter Geschlechtertrennung fordern?
Die meisten, die dort aktiv sind, sind in Deutschland geboren. Ihre Motive sind unterschiedlich. Mit sehr simplen Überschriften werden Menschen gelockt, die eine Sehnsucht nach Identifikation haben, die eine Gemeinschaft suchen. Oft wird mit sehr einfachem Wording gefischt. Wie: „Die Deutschen mögen uns nicht“, „Der Islam wird weltweit bekämpft“, „Auch du kannst deinen Beitrag leisten, auch wenn du in der Vergangenheit Fehler begangen hast“. Zielgruppe sind oft Menschen mit muslimischem Hintergrund, egal welcher Nationalität. Das spricht dann Leute an, die in ihrer Laufbahn bisher nur versagt haben, etwa kleinkriminell geworden sind. Indem sie ultrafromm und religiös werden, meinen sie, sich wieder reinwaschen zu können.

Es ist der Eindruck entstanden: Wenn du jetzt für Palästina demonstrierst, machst du dich strafbar, dann ist dein Pass weg.

Ahmad Omeirat, Lokalpolitiker und Mitglied der Grünen in Essen

Wie gefährlich ist die Szene?
Über die Größe der Anhängerschaft lässt sich kaum etwas sagen. Sie haben keine festen Treffpunkte, sondern organisieren sich allein über das Internet. Die Gaza-Offensive ist für diese Leute ein Anlass, Profit zu ziehen. Wenn sie eine Lücke sehen, dann füllen sie diese sehr schnell. Nach dem Motto: „Die anderen Muslime schweigen zu Gaza, weil sie indoktriniert sind.“ Was ich meine, ist: Wenn wir denen die Möglichkeit geben, dann können sie sehr viele Anhänger rekrutieren. Das war auch in der Vergangenheit so, als es keinen deutschsprachigen Islamunterricht in den Gemeinden gab und nur auf Türkisch, Albanisch oder Arabisch für eine Gruppe von Rentnern gepredigt wurde. Das haben Salafisten dann ausgenutzt und sich mit einfachen Botschaften auf Deutsch an jüngere Muslime gewendet. Die Jungen sprechen hauptsächlich Deutsch, deshalb ist der Islamunterricht auf Deutsch so wichtig. Dort muss den jungen Leuten beigebracht werden: Nicht jeder, der einen Bart trägt oder ein Abaia anhat, bringt dir den richtigen Islam bei. Man muss die Leute davor warnen, sich nicht einfangen zu lassen. So wie wir das hier in Essen machen.

Sie sehen es als Fehler an, dass man palästinensische Proteste teilweise verboten und von Beginn an so stark verurteilt hat. Wieso?
Wir haben mit den Verboten der Pro-Palästina-Demos dazu beigetragen, dass das Bild entstanden ist: Wenn jemand für das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza auf die Straße geht, ist das verpönt. Es war von Anfang an, ein strategischer Fehler, diese Demonstrationen zu dämonisieren. Wir haben nicht daran gedacht, dass die Menschen angesichts der steigenden Opferzahlen in Gaza ein Ventil brauchen, ihre Wut und Trauer auch auf die Straße tragen müssen. Es war falsch, diese Trauer zu unterdrücken. Natürlich müssen dabei antisemitische Plakate oder Aussagen, die den Holocaust relativieren, sofort unterbunden werden. Aber es hat keine ausgewogene Entscheidung gegeben, was erlaubt ist und was nicht.

Es ist der Eindruck entstanden: Wenn du jetzt für Palästina demonstrierst, machst du dich strafbar, dann ist dein Pass weg. Bei den Menschen sind jetzt die Bilder in den Köpfen geblieben, wie die Polizei von einzelnen Menschen Palästina-Flaggen einsammelt, mit nicht plausiblen Begründungen. Das hat auch arabische und muslimische Multiplikatoren wie mich, die gut mit den Communitys vernetzt sind, sehr geschwächt. Jetzt ist die Gefahr groß, dass diese Lücke von den radikalen muslimischen Gruppen geschlossen wird.

Ganz am Anfang gab es noch kein Leid auf palästinensischer Seite. Da wurde das Massaker an der israelischen Zivilbevölkerung gefeiert. Gab es da nicht auch ein Versagen auf muslimischer Seite?
Auf jeden Fall. Es ist absolut zu verurteilen, dass jemand nach dem Massaker der Hamas Bonbons oder Baklava verteilt und sich darüber freut. Das haben ja noch nicht einmal die Menschen in Gaza gemacht. Wir müssen aus diesen Fehlern lernen und das in unsere Aufklärungsarbeit miteinfließen lassen. Es ist das Wichtigste, dass solche Vorfälle in den arabischen und muslimischen Communitys aufgearbeitet werden. Es muss auch in die Köpfe der Menschen dringen, dass es niemanden in Gaza hilft, wenn man hier auf der Straße volksverhetzende Sprüche rauslässt.

Es muss auch in die Köpfe der Menschen dringen, dass es niemanden in Gaza hilft, wenn man hier auf der Straße volksverhetzende Sprüche rauslässt.

Ahmad Omeirat, integrationspolitischer Sprecher der Grünen in Essen

Aber fehlt es bei den Demonstrationen nicht auch an einer deutlichen Distanz zu den Terroristen der Hamas?
Auf den zwei Demonstrationen zum Leid der Menschen in Gaza, auf denen ich war, haben sich die Veranstalter in Reden klar von der Hamas distanziert und die Angriffe auf Israel kritisiert. Eine religiöse Rednerin urteilte, dass das nicht muslimisch sei. Die Teilnehmer haben nicht widersprochen. Ich glaube, es ist in den meisten Köpfen der Demonstranten verankert, dass das Massaker vom 7. Oktober einfach nur unmenschlich war.

Aber wir befinden uns in einer anderen Phase. Wer jetzt eine Demonstration anmeldet, der hat die israelischen Bomben auf Gaza im Blick. Der will, dass das Leid aufhört. Leider gerät auch in der arabischen Blase schnell in Vergessenheit, dass die Hamas den Angriff angefangen hat. Beim Nahost-Konflikt ist es bedauerlicherweise immer so, dass man sich schnell in einer Argumentationsspirale verwickelt. Wenn man danach fragt, wer was zuerst gemacht hat, landet man ganz schnell im letzten und vorletzten Jahrhundert. Letztlich müssen wir alle irgendwann wieder ins Gespräch kommen, auch darüber, dass im Gaza-Streifen aktuell die meisten Opfer Minderjährige und Frauen sind.

Auf den Palästinenser-Demos sind auch viele aggressive Menschen unterwegs. Für die Polizei ist es deshalb schwer, immer ausgewogen und feinfühlig zu selektieren. Welche Form des Protestes sollte Ihrer Meinung nach möglich sein?
In den sozialen Medien haben sich mittlerweile die Fake-News verbreitet, dass man in Deutschland nicht für Palästina demonstrieren dürfe. Aber die Form, seine Meinung auf die Straße zu bringen, ist durch das Grundgesetz klar geregelt. Wenn die Demonstration im Einklang mit den behördlichen Regeln steht, ist sie zu genehmigen. Und es ist legitim, einen Stopp der Bombardierung in Gaza zu fordern und für Frieden zu demonstrieren. Auch ich fordere das. Wir haben zum Beispiel in Düsseldorf gesehen, dass das friedlich und ohne antisemitische Hetze möglich ist. Dort gab es einzelne Zwischenfälle, aber die wurden sofort von der Polizei rausgezogen – und so muss das auch sein.

An Berlins Schulen gibt es seit zwei Wochen die Möglichkeit, das Palästinensertuch oder den Schriftzug „Free Palestine“ zu verbieten. Hilft das?
Bei solchen Maßnahmen frage ich mich, ob man nicht auch an die Menschen mit palästinensischem und arabischem Hintergrund heranwill. Das sind Deutsche, Berliner und Berlinerinnen, die diese Tücher tragen. Die Aussage „Free Palestine“ heißt übersetzt „Freies Palästina“ – wie will man jungen Leuten erklären, dass das verboten ist? Mit dieser Symbolpolitik macht man die Gräben nur größer und entfremdet sehr viele Jugendliche. Die Lehrerinnen und Lehrer müssen jetzt Vertrauens- und Aufklärungsarbeit leisten. Dafür sollte man ihnen besseres Werkzeug in die Hand geben als solche Verbote. Wir müssen jetzt mit inhaltlichen Angeboten an die Communitys ran und sollten den jungen Menschen nicht noch mehr Gründe geben, sich von irregeleiteten islamistischen Ideologen einsammeln zu lassen.

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