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Ausflug einer Krippe in der sächsischen Stadt Niesky 1964.

© SLUB Dresden/Deutsche Fotothek/Kurt Heine

Folgen des DDR-Kitasystems: „Viele leiden unter Depressionen und Angststörungen“

In der DDR waren Wochenkrippen üblich, die Kinder sahen ihre Eltern von Montag bis Freitag nicht. Die Psychologin Eva Flemming erforscht, wie die Kleinen dadurch fürs Leben geprägt wurden.

Frau Flemming, das Thema Wochenkrippenkinder taucht plötzlich an verschiedenen Stellen in der Öffentlichkeit auf. Sie arbeiten an einer Studie zur seelischen Gesundheit ehemaliger Wochenkrippenkinder. Wie sind Sie auf das Thema gekommen?
Mein Interesse am Krippensystem der DDR beruht auf der Bindungsperspektive. Ich habe mich gefragt, was es für die seelische Gesundheit eines Menschen bedeutet, wenn er im Alter von sechs Wochen ganztägig abgegeben wird. Und im Fall der Wochenkrippe sogar die ganze Woche Tag und Nacht in der Krippe bleiben muss, von Montag um 6 Uhr bis Freitagnachmittag oder sogar Samstag. Ohne Eltern.

Sie hatten keinen persönlichen Bezug zum Thema?
Es gibt persönliche Bezüge, da meine Eltern aus der DDR kommen und viele meiner Angehörigen ihre ersten Lebensjahre in DDR-Krippen verbracht haben. Das Interesse entstand sicherlich auch aus dem Wunsch heraus, die eigene Familiengeschichte besser zu verstehen. Ich fand aber insbesondere zu den Wochenkrippen kaum Literatur dazu. Das hat mich sehr überrascht.

Inzwischen haben Sie 150 ehemalige Wochenkrippenkinder mit Fragebögen befragt. Worunter leiden sie?
Wir haben uns angeguckt, wie häufig depressive oder Angstsymptome in den vergangenen zwei Wochen vorkamen – und die Anzahl der psychischen Probleme über die gesamte Lebenszeit hinweg. In beiden Bereichen gaben die Wochenkrippenkinder eine deutlich höhere Belastung an als die Vergleichsgruppe. Dafür haben wir Daten von Menschen genommen, die etwa gleich alt sind und in der DDR geboren wurden, jedoch in einer Tageskrippe oder in der Familie betreut worden sind. Der zweite Bereich, den wir uns anschauen, ist die Bindung in den aktuellen Partnerschaften. Da zeigen sich bei den Wochenkindern ebenfalls deutlich höhere Werte bei Bindungsangst und Bindungsvermeidung.

Gibt es dazwischen einen Unterschied?
Bindungsangst beschreibt die starke Angst vor dem Verlassenwerden, und die Sorge, nicht gut genug zu sein für den anderen. Bindungsvermeidung beschreibt das Bedürfnis, den anderen gar nicht an sich heranzulassen, keine engeren Bindungen zuzulassen.

Und die Wochenkrippenkinder leiden darunter.
Nicht immer. Manche Probanden beschäftigen sich schon lange damit, waren vielleicht auch schon in Therapie. Andere sagen, dass sie noch gar nicht lange wissen, dass sie in der Wochenkrippe waren, und ihnen das jetzt erst klar wird. Doch Bindungsschwierigkeiten beschreiben viele.

Erinnern die sich überhaupt nicht an die Zeit in der Wochenkrippe?
Die wenigsten können konkrete Dinge benennen. In der Regel haben wir in den Krippenjahren zwischen null und drei Jahren keine bewussten Erinnerungen. Manche können Sinneseindrücke beschreiben, einen Geruch zum Beispiel. Oder sie wissen, wie sich die Bettdecke angefühlt hat. Sie sagen: Ich sehe einen Flur. Oder ein Gitterbett. Aber es geht uns in der Studie nicht in erster Linie darum, sondern um die Bestandsaufnahme des aktuellen psychischen Befindens und des Erlebens von Beziehungen.

Wie prägen uns früheste Erfahrungen, die wir gar nicht erinnern?
Sie schreiben sich in unseren Körper ein, in die Art und Weise, wie wir uns in bestimmten Situationen mit anderen Menschen fühlen oder verhalten. Daran ist in dieser frühen Lebensphase das sogenannte prozedurale Gedächtnis beteiligt, wie beim Erlernen von Fahrradfahren oder Schwimmen, was wir ja auch nicht vergessen. Man geht davon aus, dass diese ganz frühen Erfahrungen auf diese Art auch festschreiben, wie man sich in Beziehungen fühlt.

Welche Probleme werden noch genannt?
Viele sagen, dass sie sich immer fremd gefühlt haben in Gesellschaft, dass sie sich in Gruppen nicht richtig zugehörig fühlen. Sie fühlen sich verlassen und leiden unter Selbstzweifeln. Ein großer Teil berichtet von Depressionen und Angststörungen im Erwachsenenalter. Bei einigen treten diese Probleme auf, wenn die eigenen Kinder erwachsen werden und aus dem Haus gehen.

Studienteilnehmer beschreiben ein Gefühl, als ob die Beziehung nicht mehr existiert, sobald die geliebte Person nicht mehr körperlich anwesend ist. Häufig wird ein großes Harmoniebedürfnis beschrieben und Schwierigkeiten, Konflikte auszutragen. Dazu nennen viele ein fehlendes Urvertrauen. Auch das entsteht in den ersten Lebensjahren – durch die ständige, möglichst feinfühlige Zuwendung einer festen Bezugsperson.

Das ideologisch motivierte Ziel war es – neben der verfügbaren Arbeitskraft von Frauen –, die Kinder möglichst früh in einer kollektiven Betreuung zur sozialistischen Persönlichkeit zu formen.

Eva Flemming über das Krippensystem der DDR

Betroffene haben mir von Zusammenbrüchen in ihrem Leben berichtet, die sie monatelang, teils jahrelang aus der Bahn geworfen haben.
Das ist aber nicht bei allen so. Es gibt Studienteilnehmer, die beruflich sehr erfolgreich sind. Sie sagen, dass sie ihr Gefühl des Mangels gut durch berufliche Leistungsfähigkeit kompensieren können. Andere wiederum mussten aufgrund seelischer Probleme früher aus dem Beruf ausscheiden, sind früh berentet.

Man weiß aus Studien mit Heimkindern, dass Menschen, die von der Familie getrennt aufgewachsen sind, schneller auf Stress reagieren – auch wenn sie objektiv nicht anstrengenderen Umständen ausgesetzt sind als andere. Wir versuchen, das auch in der Studie zu erfassen, indem wir das Cortisol-Level untersuchen.

…das Stresshormon, das inzwischen gut entschlüsselt ist…
Cortisol lagert sich unter anderem im Haar ab, und man kann daraus Schlüsse ziehen über das Stresslevel. Die Hypothese ist, dass sich körperliche Stressregulationsprozesse in den ersten zwei Lebensjahren ausbilden, Babys können das zunächst nicht selbst, sondern müssen wiederholt die Erfahrung machen, dass die Bezugsperson zuverlässig kommt, beruhigt und somit den Stress für das Baby reguliert. Wir wollen überprüfen, ob es bei den Wochenkrippenkindern Hinweise darauf gibt, dass sie ein dauerhaft erhöhtes Stresslevel haben. Diese Proben werden wir aber erst Ende des Jahres auswerten.

Waren diese weitreichenden Auswirkungen von umfassender Fremdbetreuung in der DDR bekannt?
Die Bindungstheorie kannte man auch in der DDR seit den 60er Jahren, aber man hat sie nicht berücksichtigt. Das ideologisch motivierte Ziel war es – neben der verfügbaren Arbeitskraft von Frauen –, die Kinder möglichst früh in einer kollektiven Betreuung zur sozialistischen Persönlichkeit zu formen. Es wurde auch vom Kinderkollektiv gesprochen.

Zu diesem Ergebnis kamen bereits Studien in der DDR.
Ich möchte betonen, dass es uns mit dieser Studie nicht darum geht, jemandem Vorwürfe zu machen, weder den Eltern noch den Erzieherinnen. Jedoch kann man klar feststellen, dass in der DDR aus politischen Gründen die wochenweise Krippenbetreuung aufrechterhalten wurde, auch nachdem die schädlichen Folgen für die Entwicklung der Kinder bekannt waren.

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