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Agnes Wessalowski im Klabauter Theater

© Gisela Köhler

Schauspielerin bei den Special Olympics World Games: Auftritt Wessalowski

Theaterbühne, Sportplatz, Baywatch – ein ganz normaler Donnerstag im Leben der 42 Jahre alten Hamburgerin. In Berlin will sie nun ihre zwei Goldmedaillen verteidigen.

Von Benjamin Apitius

Ob sie stolz sei auf ihre Tochter: „Total!“, platzt es aus ihr heraus. Wäre Stolz eine Flüssigkeit – Mama Wessalowski würde überlaufen. Sie kneift bei der Antwort die Augen zusammen, vielleicht um genau das nicht zu tun.

Tochter Agnes gehört zum Ensemble des Klabauter Theaters in Hamburg. Sie schüttelte schon Michail Gorbatschow die Hand und lag Whitney Houston in den Armen. In Berlin wird sie zum fünften Mal an Weltspielen der Special Olympics teilnehmen. Die 42-Jährige hat Trisomie.

Die offene Art von Agnes Wessalowski greift im Gespräch sofort über, steckt an. Ihre Erinnerungsgabe fällt auf. Wann sie bei den Eltern ausgezogen sei? „Sechster Juni 2006!“ Sie lebt in einer Wohngruppe in Hamburg-Bergedorf. Zweiter Stock, ein Zimmer, Küche, Bad, immer aufgeräumt. „Da ist sie pingelig“, erzählt Mama Wessalowski und zwinkert: „Hat sie von zu Hause.“ Einkaufen, waschen, putzen, macht die Tochter alles selbst.

Sie probt von morgens bis nachmittags

Die Wochenenden verbringt die Familie meist gemeinsam bei den Eltern, die in der Nachbarschaft wohnen. Auch der Sportplatz, auf dem Wessalowski trainiert, liegt nur ein paar Straßen entfernt. Zum Klabauter Theater mit seinem inklusiven Ensemble sind es sechs Stationen mit der S-Bahn. Beginnen wir diesen Tagesausflug in das Leben von Agnes Wessalowski also dort, an einem Donnerstagmittag Ende Mai.

Zur öffentlichen Generalprobe von „Ombra“ wird es voll. Ein Musiker unterlegt den Auftritt der zwölf Schauspielerinnen und Schauspieler mit seinen Instrumenten, zu jeder Episode des Stücks spielt er eine andere Melodie. Es geht um Träume und Sehnsüchte, Ängste – ein Spiel aus Licht und Schatten. 

Dann setzt die Jazzgitarre ein, Auftritt Wessalowski. Von hinten kommt sie in den verdunkelten Zuschauerraum gestürmt und leuchtet mit einer Taschenlampe in die Reihen. „Na wie geht’s dir, meine Süße? Siehst gut aus!“, ruft sie der Frau zu, die sie mit ihrem Lichtkegel eingefangen hat. Die Frau will gerade etwas entgegnen – doch Agnes ist mit ihrem Spiel schon weiter: „Nicht Du!“, ruft sie ihr noch zu und leuchtet bereits auf die Sitznachbarin: „Du da mit den Locken, Dich meine ich!“ Das Publikum lacht.

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Über die Rollstuhlrampe läuft sie hoch auf die Bühne, heult laut auf, versteckt sich, kommt wieder hervor, tanzt, spricht ihren Text mit fester Stimme. Agnes Wessalowski ist mit 1,43 Meter die Kleinste im Ensemble – und hat die Spielkraft und Präsenz einer Riesin. 

Das Klabauter feiert in diesem Jahr sein 25-jähriges Bestehen. Wessalowski ist seit 24 Jahren dabei. Nach ihrer Zeit an der Gewerbeschule für Gärtnerei und Hauswirtschaft fand sie hier eine Festanstellung. Unter der Woche probt sie von morgens bis nachmittags, lernt Texte, Einsätze, macht Bewegungstraining, Stimmübungen, spielt. Sie war schon Prinzessin Mirenda, Hermia, Antigone, Lady MacBeth – an insgesamt 27 Produktionen wirkte sie bislang mit. Es ist ein herausfordernder Beruf wie an jeder anderen Bühne auch.

Schauspielerin Agnes Wessalowski als Schiffskonstrukteurin Peiri in „Mythen der Zweckmäßigkeit“ (2021)
Schauspielerin Agnes Wessalowski als Schiffskonstrukteurin Peiri in „Mythen der Zweckmäßigkeit“ (2021)

© Gisela Köhler

Nach der Generalprobe steigt Agnes Wessalowski im Vorraum des Theaters auf einen Barhocker. Gerne duzen, sagt sie: „Na dann schieß los, stell mal Deine Fragen!“

Bist Du noch aufgeregt vor den Aufführungen? „Wenn ich auf der Bühne bin, bin ich manchmal schon noch aufgeregt. Aber früher war ich total aufgeregt, und zweitens: Ich war schüchtern.“

Das merkt man heute aber nicht mehr! „Ja ich weiß, das ist ja auch schon lange her.“

Was sind deine Tricks beim Textlernen? „Tricks? Ich habe keine Tricks. Ich übe so lange, bis ich das kann.“

Und wie kamst Du zum Sport? „Ich war sieben Jahre alt, als ich zum Sport gekommen bin. Da habe ich Björn kennengelernt. Ich war hin- und weggerissen, ich war total verliebt in ihn.“

Wie viele Medaillen hast Du schon gewonnen? „Ich habe so viele, mein Lieber! Mein ganzes Zimmer ist voll!“

Wie oft trainierst Du denn? „Donnerstags ist immer Sport. Du kommst doch heute Abend auch. Da freue ich mich.“

Agnes Wessalowski kommt entwaffnend ehrlich daher, höflich und direkt, eine seltene Mischung. Ihre Augen blitzen auf, wenn sie sich erinnert, etwa an 2004: Michail Gorbatschow rief sie bei einer Gala im Renaissancetheater zu sich nach vorne. Stellvertretend für die Frauen der Special Olympics in Hamburg, wo in dem Jahr die Nationalen Spiele stattfanden, überreichte er ihr den Sonderpreis beim World Woman Award. Beim Vorlesen ihrer Dankesrede habe sie unheimlich gezittert, erzählt Wessalowski fast 20 Jahre später und schüttelt ihre ausgestreckten Hände.

Gezittert hatte auch Mama Wessalowski zu Hause vor dem Fernseher. Ihre Tochter war mit dem Taxi abgeholt worden. Während ihrer Rede geriet sie kurz ins Stocken, fand den Faden aber schnell wieder. In den Zeitungen hieß es, ihr Auftritt habe Schauspielkollegin Iris Berben im Publikum zu Tränen gerührt. „Am Ende sind alle aufgestanden und haben mich bejubelt“, erzählt Agnes Wessalowski. Beim Schlussbild auf der Bühne drückte sie Whitney Houston, die ebenfalls einen Preis erhalten hatte.

2004 zeichnete Michail Gorbatschow beim World Woman Award die Special Olympics Bewegung aus. Den Preis überreichte er Wessalowski.
2004 zeichnete Michail Gorbatschow beim World Woman Award die Special Olympics Bewegung aus. Den Preis überreichte er Wessalowski.

© picture-alliance / dpa/dpaweb

Die Wessalowskis stammen gebürtig aus Polen. Agnes kam 1981 etwa zehn Jahre nach ihrer Schwester in Hamburg zur Welt. Sie ging in die Integrationsklasse auf einer Gesamtschule. Mit sieben steckten ihre Eltern sie in den Sportverein, sie sollte endlich unter Leute, sagt die Mutter an dem sonnigen Donnerstagabend auf dem Sportgelände in Bergedorf. Trainer Björn von Borstel schießt gerade mal wieder einen Fußball zurück, der vom Nebenplatz angeflogen kam.

Sie teilt ihre Kräfte genau ein

Jaja der Björn. „Er ist ihr sehr heilig“, lacht Mama Wessalowski. Er ist der Sohn von Agnes erster Trainerin, seit vielen Jahren leitet er nun selbst die Integrationssportgruppe des SV Nettelnburg/Allermöhe. Von Borstel macht das an diesem Abend in freundschaftlichem Ton, gibt Hilfestellungen, feuert an und moderiert, nimmt auch mal jemanden auf die Schippe, freut sich über das, was hier gerade so um ihn herum passiert. Bräuchte Inklusion ein Gesicht, man könnte guten Gewissens das von ihm nehmen mit seinen treuen Augen und dem struppigen Bart am Kinn.

An jenem Donnerstag sind neun seiner Sportlerinnen und Sportler zum Training gekommen, fünf von ihnen sind für die Nationalmannschaft bei den Weltspielen nominiert. Von Borstel selbst wird in Berlin als Organisationschef der Leichtathletik-Wettbewerbe fungieren. Doch nun sollen sie erstmal ein paar Runden um den Platz laufen.

„Unter vier ist kein Aufwärmen“, ruft er, als jemand schon nach der ersten Runde fragt, ob das nicht genüge. Wessalowski läuft und läuft und läuft, in sich gekehrt und viel gemächlicher als noch auf der Theaterbühne ein paar Stunden zuvor. Sie teilt sich ihre Kräfte ganz genau ein. Nach einer Erkältung soll sie es ruhig angehen lassen, sagt von Borstel. Das nimmt sie fast wörtlich.

Ich bin der größte aller HSV-Fans!

Agnes Wessalowski

Mama Wessalowski sitzt mit anderen Eltern am Rand auf einer Stufe, hält die Wasserflasche von Agnes und die Trainingsjacke mit der HSV-Raute. Bei jeder Verschnaufpause ihrer Tochter bekommt sie ein Küsschen auf die Wange.

Jaja der HSV. „Er ist ihr auch sehr heilig“, lacht Mama Wessalowski: „Zuerst kommt bei Agnes der Sport, dann Theater, und dann der HSV.“ Oder andersherum. Mittags beim Gespräch hat sich Wessalowski selbst als „größten aller HSV-Fans“ bezeichnet.

Bis zur Corona-Pandemie hatten sie und von Borstel eine Dauerkarte, auch Papa Wessalowski kam mal mit. Bald wollen sie wieder hin – den Aufstieg, den sich Agnes Wessalowski so sehr gewünscht hatte, verpassten die Fußballer allerdings ein paar Tage nach diesem gemeinsamen Donnerstag, an dem nun alle ihre vier Runden gedreht haben.

Bei Weltspielen (hier 2015 in L.A.) hat Wessalowski Fotos ihrer Eltern und Schwester dabei: „So kann ich ihnen besser gute Nacht wünschen.
Bei Weltspielen (hier 2015 in L.A.) hat Wessalowski Fotos ihrer Eltern und Schwester dabei: „So kann ich ihnen besser gute Nacht wünschen.

© Steve Hymon/Dreamstime

Zeit zum Dehnen. Im Kreis soll jeder aus der Gruppe eine eigene Übung anleiten. Wessalowski stellt das linke Bein vor das rechte und beugt sich runter. Die anderen machen es nach. „Uuund Wechsel“, ruft sie und stellt das rechte Bein nach vorn. „Uuund locker!“ Die Gruppe stöhnt auf. Björn von Borstel hat in der Zwischenzeit Hütchen auf der Geraden der 400-Meter-Bahn verteilt. Verschiedene Laufübungen stehen an.

Bei ihren fünften Weltspielen geht Agnes Wessalowski im Sprint, in der Staffel und im Weitsprung an den Start. 1999 war sie in North Carolina mit gerade einmal 18 Jahren im Schwimmen dabei. 2013 probierte sie sich bei der Winterversion in Pyeongchang im Schneeschuhlaufen aus. Bei den Spielen 2015 in Los Angeles (Foto oben) und vor vier Jahren in Abu Dhabi trat sie bereits in der Leichtathletik an. Von all diesen Reisen brachte sie Medaillen mit.

In Berlin will Wessalowski ihre zwei goldenen von den vergangenen Sommerspielen verteidigen. Es werden womöglich ihre letzten großen Wettkämpfe sein. „Eigentlich wollte ich aufhören“, erzählt sie. Warum denn aufhören? Genug Medaillen? Wessalowski muss lachen: „Ja genauso ist es. Du hast recht: Ich habe keinen Platz mehr.“ Dann überlegt sie kurz: „Und ich habe keine Kraft mehr. Also ich habe schon Kraft, aber irgendwann reicht es.“

Nach einem langen Tag freut sich Agnes Wessalowski nun auf zu Hause. Montags, dienstags und eben donnerstags trifft sie sich am Abend meistens mit Jens, einer von 13 Nachbarinnen und Nachbarn in ihrer Wohngruppe. Es gibt Chips und Salzstangen: Zusammen wollen sie „Baywatch“ schauen. Wo das denn noch läuft? „Na auf DVD!“

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