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Ernst Fraenkel.

© Gestaltung: Tagesspiegel/Schneider | Heirler/picture alliance/dpa, imago

Zum 125. Geburtstag von Ernst Fraenkel: Wird Demokratie nicht verstanden, droht ihre Zerstörung

Pluralismus, Werte, Gemeinwohl: Ernst Fraenkel war einer der bedeutendsten Politikwissenschaftler Deutschlands. Zeit, sich wieder mit seinem Werk zu befassen.

Ein Gastbeitrag von Samuel Salzborn

Wenn sich am 26. Dezember der Geburtstag von Ernst Fraenkel zum 125. Mal jährt, kann das gerade in Berlin ein Anlass sein, das Ehrengrab dieses vielseitigen Vordenkers auf dem Dahlemer Waldriedhof zu besuchen. Bedeutsamer aber sind die Schriften dieses für die bundesdeutsche Politikwissenschaft so maßgeblichen Autoren.

Fraenkel gilt zu Recht als intellektueller Wegbereiter der westdeutschen Demokratie, mit zwei bedeutenden Ansätzen: den Nationalsozialismus als „Doppelstaat“ zu analysieren und die Interpretation der modernen Demokratie aus dem Blickwinkel des Pluralismus und konkurrierender Interessen zu betrachten.

Kapital und Lohnarbeit

In der Weimarer Republik war Fraenkel als Anwalt im sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Milieu aktiv. Er zählte zum Kreis reformistischer Intellektueller, die den Weimarer Staat durch Verfassungsreformen sozialisieren und die parlamentarische Demokratie stabilisieren wollten. Fraenkel begriff die Weimarer Reichsverfassung als dialektische Demokratie, in der die Gegensätze zwischen Kapital und Lohnarbeit nicht aufgehoben, sondern abgeschwächt würden – für ihn die einzig mögliche demokratische Organisationsform im „aufgeklärten Hochkapitalismus“.

In dieser dialektischen Demokratie würden antagonistische Interessen anerkannt und eine chancengleiche Partizipation am politischen Willensbildungsprozess ermöglicht. Als Existenzbedingung sei eine kollektive Demokratie nötig, in der die Bevölkerung „ständig an dem Integrationsprozess des realen Staates“ teilnehmen solle. Voraussetzung dafür sei ein Minimum an sozialen Gemeinsamkeiten – fallen diese Gemeinsamkeiten weg, löst sich der Staat auf. In verschiedenen rechtssoziologischen Analysen zeigte Fraenkel, wie sich dieser Auflösungsprozess in den frühen 1930er-Jahren vollzog.

Nationalsozialistische Willkür

Eine Staatstheorie im engeren Sinn legte Fraenkel erst mit seinem „Doppelstaat“ vor – der einzigen kritischen Analyse des NS-Systems, die während des Nationalsozialismus in Deutschland verfasst wurde: Denn Fraenkel konnte, obwohl er Jude war, wegen seines Einsatzes am Ersten Weltkrieg auch nach 1933 als Anwalt tätig sein und musste erst später emigrieren. Der „Doppelstaat“ basierte also auf Quellenstudien und der unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem NS-Regime.

Fraenkel sah im Nationalsozialismus einen „Maßnahmenstaat“ und einen „Normenstaat“ gleichermaßen: „Unter ‚Maßnahmenstaat’ verstehe ich das Herrschaftssystem der unbeschränkten Willkür und Gewalt, das durch keinerlei rechtliche Garantien eingeschränkt ist; unter ‚Normenstaat’ verstehe ich das Regierungssystem, das mit weitgehenden Herrschaftsbefugnissen zwecks Aufrechterhaltung der Rechtsordnung ausgestattet ist, wie sie in Gesetzen, Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsakten der Exekutive zum Ausdruck gelangen.“

Demokratie ist die gefährdetste aller Regierungsmethoden.

Ernst Fraenkel, Jurist und Politikwissenschaftler

Fraenkel emigrierte 1938 in die USA, wurde Berater der Regierung und für die Amerikaner in Korea tätig. In den Fünfzigern kam Fraenkel nach Berlin zurück, wurde 1953 Professor für Vergleichende Lehre der Herrschaftssysteme an der Deutschen Hochschule für Politik, dem späteren Otto-Suhr-Institut der Freien Universität. Hier knüpfte an seine staatstheoretischen Analysen der Weimarer Zeit und des Nationalsozialismus an, entwickelte sich dabei aber von sozialistischen zu pluralistischen Positionen.

Seine Pluralismustheorie basiert auf der Annahme, dass die Vertretung konkurrierender Interessen einer Demokratie nicht schade, sondern deren Fundament bilde. Auf der Basis der Anerkennung konkurrierender Lebensformen soll ein kontroverser Prozess der Willensbildung stattfinden, dem allerdings ein gemeinsamer Wertkodex zugrunde liegen müsse. Das Gemeinwohl sei nicht abstrakt definierbar, sondern müsse in Interessenauseinandersetzungen ausgehandelt werden.

Heterogener, pluralistischer Rechtsstaat

Staatlicher Idealtyp ist für Fraenkel der „autonom legitimierte, heterogen strukturierte, pluralistisch organisierte Rechtsstaat“. Demokratie sei, erklärte Fraenkel 1955 in einem Vortrag, „die komplizierteste“ – und „die gefährdetste aller Regierungsmethoden“, denn sie benötige die Einsicht in die „Bewegungsgesetze des demokratischen Willensbildungsprozesses“.

Wenn also Demokratie nicht verstanden wird, droht ihre Zerstörung. Gerade angesichts der aktuellen Debatten über das destruktive Wirken von Social Media, False Balancing in der öffentlichen Darstellung kontroverser Politikfelder, dem Erstarken populistischer Bewegungen oder der Verrohung politischer Debatten bewies Fraenkel einen Weitblick, auf den man im Sinne unserer Demokratie genauer zurückgreifen sollte.

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