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Die „Mütter vom Kollwitzplatz“, das sind immer die anderen.

© Kai-Uwe Heinrich

Wir Mütter vom Kollwitzplatz: Allein gelassen – wenn nicht vom Kindsvater, dann von der Politik

Kommentiert werden sie nicht nur von der Schwiegermutter. Sondern von der ganzen Stadt. Die Klischees über die Frauen von Prenzlauer Berg und die Wahrheit.

Seit 1999 wohne ich am Kollwitzplatz und habe mit insgesamt drei Kindern hier etwa genauso viele Stunden auf dem berühmtesten Spielplatz Europas verbracht.

Trotzdem würde ich mich niemals eine „Mutter vom Kollwitzplatz“ nennen. Ich lache über sie. Denn die Mütter vom Kollwitzplatz, das sind immer die anderen. Vermutlich macht mich genau das zu einer von ihnen.

Sich über die „Mütter vom Kollwitzplatz“ lustig zu machen, ist so einfach. Babyeierleicht. Sie sind verspannt, angeberisch und sie erziehen ihre verwöhnten Kinder öffentlich und gerne auch mal auf Englisch. Obwohl die meisten von ihnen in irgendeinem deutschen Kaff geboren und weiß sind. Diversität gibt es in Prenzlauer Berg nicht mal bei den Vornamen der Kinder. Irgendeins heißt immer Anton.

Eine Mutter vom Kollwitzplatz sein ist dagegen nicht ganz einfach. Denn sie steht unter Beobachtung. Kommentiert wird sie nicht nur von ihrer Schwiegermutter. Sondern von der ganzen Stadt. Aber welche Mutter hat es schon leicht?

Sie ist einfach zu erkennen, an ihrem Kind. Deshalb glaubt jeder, auch sie zu kennen. Aber wer ist die Frau hinter dem 1000-Euro-Kinderwagen? Warum wurde sie zu einer größeren Provokation als früher die Punks am Senefelderplatz?

Aline von Drateln, Mutter vom Kollwitzplatz.
Aline von Drateln, Mutter vom Kollwitzplatz.

© Christobal

Verwöhnt, verheiratet, vierzig. Gut auf dem Papier. Nicht selten besser ausgebildet als ihr Mann.

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Aber weil sie auch gelernt hat, dass Kinder wenigstens in den ersten drei Jahren eine feste Bezugsperson brauchen, und weil sie weiß, dass die in den Berliner Kitas nicht zu finden ist, ist ihr Job jetzt ein Fulltime-Job. Ohne Aufstiegschancen. Sondern immer schön auf Augenhöhe mit dem Nachwuchs.

Mahr Kinderwagen als einst Inoffizielle Mitarbeiter

Deshalb sehen die modernen Kinderwagen hier aus wie Bürodrehstühle. Von denen gibt es hier in Prenzlauer Berg heute mehr als früher Inoffizielle Mitarbeiter. Wie konnte das passieren?

Nachdem unsere westdeutschen Mütter ihre BHs verbrannt und die ostdeutschen selbstverständlich gearbeitet haben. Ich stelle fest: Auch ich bin da irgendwie reingeraten. Anfang zwanzig nach einer Party hängen geblieben. War so schön wild hier. Und billig dazu. Studiert, gearbeitet, schwanger geworden.

Der berühmteste Spielplatz Europas.
Der berühmteste Spielplatz Europas.

© imago stock&people

Nichts, was mich von Millionen anderer Frauen unterscheidet. Aber wir Frauen wurden hängen gelassen. Wenn nicht von dem Kindsvater, dann zumindest von der Politik. Nicht erst seit Corona spielen Kinder da keine Rolle. Wer Mutter ist, hat nicht die Wahl zwischen Kind oder Karriere.

Ihre Entscheidung ist die zwischen Kind oder Kind und Karriere.

Karriere allein machen hier nur die Männer. Also gibt die Mutter vom Kollwitzplatz ihr Bestes. Frustriert rauchend, sich auf der kleinen Mauer rumdrückend rund um den Spielplatz, sieht man hier keine.

Ja, hier herrscht Optimierungswahn

Auf dem Kollwitzplatz gibt’s Karottensticks statt Kippen. Vielleicht setzt sie sich später zu Hause mit ihrem Pilateshintern kurz auf den abgepackten Kuchen, damit der schön selbst gebacken aussieht, bevor es zum Sommerfest in die Grundschule geht. Das klappt ganz gut, das weiß ich aus eigener Erfahrung, wenn man danach schnell Puderzucker drübersiebt.

Auf dem Sommerfest vergleichen sich die Frauen dann wie bei einer Präsentation im Büro. Ja, hier herrscht Optimierungswahn.

Käthe-Kollwitz-Denkmal auf dem Platz, der den Namen der Künstlerin trägt.
Käthe-Kollwitz-Denkmal auf dem Platz, der den Namen der Künstlerin trägt.

© imago/Steinach

Ein Drittel von ihrem Nettogehalt, das ein Drittel weniger ist in ihrem Medienberuf als das von ihrem männlichen Kollegen, investiert sie in die Zukunft: Klavierunterricht für die Kleinen. Oder Fechten. Den brasilianischen Tanz-Kampfsport Capoiera. Oder den Experimentierkurs bei der anderen Mutter vom Kollwitzplatz. Die seit ihren Zwillingen nicht mehr an der Charité forscht.

Allein, das Bedürfnis, dass es dem Kind einmal besser gehen soll als einem selbst, ist noch älter als manche Väter vom Kollwitzplatz.

Der Druck ist so groß wie auf dem Dorf

Genau deshalb ist zum Beispiel Birte vor fünf Jahren von Celle nach Berlin gekommen. In das ehemalige Künstlerviertel, wo heute, so der Vorwurf, nur noch die Mütter sich selbst ausstellen. Weil sie ihr Kind in einer freieren Welt aufziehen wollte als die der Enge der deutschen Provinz.

Aber der Druck ist hier mittlerweile so groß wie auf dem Dorf. Es war schon immer das Dilemma der Frauen: Jeder meint es besser zu wissen. Wie Erziehung geht. Wie eine Mutter sich zu kleiden hat. Was der Kinderwagen kosten darf. Und was nicht.

An Müttern vom Kollwitzplatz wie Birte arbeiten sich alle ab, weil sie schuften wie Prenzlauer Bergarbeiter.

Aline von Drateln lebt am Berliner Kollwitzplatz. Alle 14 Tage prüft sie, was am öffentlichen Bild über Frauen in Prenzlauer Berg nicht stimmen kann.

Aline von Drateln

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