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Schule fürs Leben: Sexualkundeunterricht kann beim Homeschooling eine heikle Sache sein.

© Julian Stratenschulte/dpa

Wir Mütter vom Kollwitzplatz (V): Wie mein Sohn meinetwegen in Sexualkunde eine Eins bekam

Homeschooling war in Prenzlauer Berg schon vor Corona verbreitet. Aber manchmal ist Lernen von den Alten nur noch peinlich, wie unsere Kolumnistin weiß.

Am Mittwoch waren die Mütter vom Kollwitzplatz noch aufgeregter als sonst. Weil sie doch ihre Zeugnisse bekommen haben! Prenzlauer Berg war ja schon vor Corona Home of Homeschooling. Nur ganz neu Zugezogene sind überrascht, wenn hier eine Drittklässlerin ein Referat über Oasis hält. Bis sie beim Elternabend ihre Mutter am „Wonderwall“-T-Shirt erkennen. Aber: Wen wondert’s?

Weil der Senat verschlafen hat, dass es für die Kinder, für die es hier schon vor zehn Jahren nicht genügend Kitas gab, wenige Jahre später zu wenig Grundschulen gibt und dann leider vergaß, dass diese Kinder danach noch auf weiterführende Schulen gehen müssen, mussten Eltern hier schon immer nachhelfen.

Das Gesetz des Stärkeren gilt in Prenzlauer Berg nämlich nicht nur auf dem Schulhof, sondern auch im Klassenzimmer: Nur die Besten kriegen einen Platz am Kollwitzplatz. Der Rest kriegt morgens vielleicht einen in der Tram zum Gymi im Grunewald.

Für Berliner Schüler:innen ist deshalb das härteste Schuljahr die vierte Klasse. Da sind sie zehn Jahre alt. Und damit ihre Kinder dann nicht beruflich zum ersten Mal scheitern, leisten viele Eltern ganze Klassenarbeit.

Damit die Zensuren reichen, zensieren einige Mütter die Hausaufgaben ihrer Kinder. Auch ich konnte damals nicht widerstehen und legte mich bei der Kontrolle ins Zeug. Okay, ich kontrollierte nicht nur, ich korrigierte. Und manchmal übernahm ich die komplette Arbeit.

Großmütter gibts hier genau so wenig wie freie Schulplätze

Auf die Gefahr hin, dass mein Sohn jetzt sein Zeugnis von damals zurückgeben muss wie unsere Familienministerin ihren Doktortitel, bekenne ich: Ich habe gefälscht. Besondere kriminelle Energie habe ich bewiesen, indem ich extra Rechtschreibfehler eingefügt habe. Damit ich nicht auffliege.

Aline von Drateln, Mutter vom Kollwitzplatz.
Aline von Drateln, Mutter vom Kollwitzplatz.

© Christobal

Letzten Frühling habe ich erneut betrogen und auf seine Bitte seine Hausaufgabe in Bio erledigt. Was er später aber bereute. Denn: Was ist für einen pubertierenden Sohn noch peinlicher als Sexualkunde im Homeschooling zu machen? Wenn seine eigene Mutter in Sexualkunde eine Eins bekommt!

Dabei ist Lernen von den Alten doch eine alte Tugend. Am Kollwitzplatz leider kaum möglich. Denn hier gibts ja kaum noch Alte. Und wenn doch, dann sind es junge Eltern.

Großmütter gibts hier genau so wenig wie freie Schulplätze. Die sind ja alle in Hamburg oder Sindelfingen geblieben. Dabei sehnen wir uns nach Anerkennung für unsere Leistung. Und vom Lehrer können wir die natürlich nicht einfordern. Wer also sagt uns Müttern hier, was zu tun ist, damit wir die Note Eins im Muttersein kriegen?

„Verhungert doch keens, wenn’s mal bis zum Abendbrot warten muss!“

Ich frage die kleine alte Frau in meiner Straße, die ich vom Sehen kenne und immer grüße. Sie huscht gerade mit ihrem Hündchen vorbei, das tatsächlich ähnlich ausschaut wie sie: grau zerzaust.

Jute Noten fürs Tamtam? Das mütterliche Homeschooling hat in Prenzlauer Berg nicht nur Fans, weiß unsere Autorin.
Jute Noten fürs Tamtam? Das mütterliche Homeschooling hat in Prenzlauer Berg nicht nur Fans, weiß unsere Autorin.

© imago images/Jochen Tack

Mit Knopfaugen schaut sie mich an und fragt ungläubig nach: „Watt willste wissen? Ob die Mütter hier ne jute Note für ihr Tam-Tam vadient hätten?“ Sie ist hier geboren. Vor 81 Jahren. Kinder hat sie keine. Aber sie weiß: „Dass die Kinda hier ständig was zu essen in die Hand kriegen, wenn se mit die Kinderwagen geschoben werden“, sie spricht wirklich so, „das find ick nich richtig. Verhungert doch keens, wenn’s mal bis zum Abendbrot warten muss!“

Von Dinkel- und Karottensticks muss sie gar nicht erst anfangen. Weiter muss sie. Der Hund muss.

[Lesen Sie hier Folge 1: Allein gelassen – wenn nicht vom Kindsvater, dann von der Politik. Folge 2: Sie sind reich, ehrgeizig, egoistisch. Ihre größte Unverschämtheit: Sie sind Frauen. Folge 3: Hier eine Wohnung zu finden, ist so aussichtslos wie als Frau Anfang 50 mit Kind einen neuen Partner. Folge 4: Der Traum vom Berlin-Bullerbü ist ausgeträumt.]

Kalten Hund und Bio-Muffins gibt es abends beim Klassenfest unter freiem Himmel. Die Eltern haben ein Büfett aufgebaut. Schlau hatte ich mich in der Doodleliste unter „Obst“ eingetragen. Damit kann ich bei den anderen Müttern punkten UND gleichzeitig bei den Kindern, wenn ich es nicht pünktlich geschafft hätte.

„Chill’ mal, Mama“, sagt mein Sohn

Ich schaffe es. Die Weintrauben bleiben trotzdem übrig wie der Turnbeutel-Vergesser auf der Sportbank.

Die Kinder essen die Muffins und rennen herum. Erschöpft und glücklich stehen wir Mütter auf dem Kollwitzplatz. Wieder ein Schuljahr geschafft. Wir lachen, als wir einander eingestehen, wie besonders viel wir in diesem besonderen Schuljahr an Schularbeiten übernommen haben. Und wissen, dass es falsch ist.

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Von einer Bank weht der Geruch eines Joints herüber. Als einziger gebürtiger Berliner in unserer Gruppe checkt es mein Sohn sofort. „Chill’ mal, Mama“, sagt er. Vielleicht brauchen wir gar kein Lob von den Großmüttern. Oder den Lehrern.

Vielleicht brauchen wir nur unsere Kinder, damit die uns beibringen, einfach mal tief durchzuatmen.

Aline von Drateln

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