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Die Kinder haben den „Platz der Begegnung“ schnell für sich erobert.

© Lars Spannagel

Wenn weniger Autos zu viel Streit führen: Gesperrte Kreuzung in Berlin-Charlottenburg spaltet den Kiez

Die Reaktionen waren heftig: Eine temporäre Sperrung für Autos führt zu Streit, sogar einen Buttersäureanschlag gab es. Das Projekt wird verstetigt – teilweise.

Es geht um eine Kreuzung, um etwa 40 mal 50 Meter Straßenraum. Und um ein Experiment: Für fünf Wochen haben Mobilitätsforschende in einem ruhigen Wohnkiez in Berlin-Charlottenburg– dort wo Wundtstraße und Horstweg sich treffen – die Autos ausgesperrt.

Im Auftrag des Bundesforschungsministeriums wollte die Forschungsgruppe Experi vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt im Herbst 2020 herausfinden, wie Anwohner:innen reagieren, wenn statt einer Straßenkreuzung mit etwa 30 Parkplätzen „ein temporärer Stadtplatz“ entsteht.

Die Reaktionen waren heftig. Das Schwarze Brett, auf dem alle sagen konnten, was sie von dem „sozial-ökologischen Realexperiment“ halten, wurde direkt in einer der ersten Nächte mit Buttersäure beschmiert.

Auf kleinen Zetteln sammelten sich an der Infotafel in den darauffolgenden Wochen Wut und Unverständnis, aber auch viel Zustimmung. Während manche Anwohner:innen sich daran machten, ihren „Platz der Begegnung“ zu gestalten, fühlten sich andere von dem Experiment überfahren.

Eine schriftliche Haushaltsbefragung verdeutlichte die Spaltung der Nachbarschaft. Die Ergebnisse stellt das Experi-Team diesen Mittwoch vor. Zweimal befragten die Forschenden den Kiez – einmal vor und einmal nach dem Experiment. Dabei haben zunächst zwölf und dann 15 Prozent der Angeschriebenen teilgenommen.

Die Nachbarschaft ist gespalten

Das Bemerkenswerte: Vor der Einrichtung des „temporären Stadtplatzes“ sprachen sich vier von fünf Befragten dafür aus, Fußgänger:innen in der Stadt am meisten Platz einzuräumen. Den „temporären Stadtplatz“ sahen bei der zweiten Befragung jedoch nur 42 Prozent positiv, 43 Prozent lehnten ihn ab. 45 Prozent sind dafür, dass der autofreie Stadtplatz dauerhaft bestehen bleibt, 45 Prozent sind dagegen.

Viele Teilnehmer:innen beklagten die wegfallenden Parkplätze, Probleme mit dem Autoverkehr in angrenzenden Straßen und befürchteten Müll und Lärm durch Kinder und Feiernde. Andererseits wurde die Verbesserung der Aufenthaltsqualität gelobt.

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Besonders Familien gaben an, dass sich die Situation für sie verbessert hat. „Kinder haben den Platz sehr viel genutzt“, sagt Studienleiterin Julia Jarass dem Tagesspiegel. Das habe viele zweifelnde Eltern überzeugt.

Ob die Teilnehmenden ein eigenes Auto besitzen, wirkte sich bei der Beurteilung der Straßensperrung kaum aus. Jüngere sehen den Stadtplatz allerdings deutlich positiver als Ältere. Da Ältere überproportional an der Befragung teilnahmen, vermuten die Forscher:innen, dass sich bei einer repräsentativen Befragung eine Zustimmung für eine dauerhafte Sperrung der Straßenkreuzung ergeben würde.

Während der Sperrung war der Redebedarf bei einer Versammlung groß.
Während der Sperrung war der Redebedarf bei einer Versammlung groß.

© Lars Spannagel

Bei einer Umgestaltung müssten jedoch insbesondere die Bedürfnisse älterer Menschen in den Blick genommen werden, mahnt Jarass. Von den Forschenden angebotene Stellplätze auf einem laut Google Maps acht Gehminuten entfernten Supermarkt-Parkplatz wurden kaum genutzt. „Viele Bewohner sagten uns, dass sie zu den Parkplätzen viel länger laufen“, berichtet Jarass. Für körperlich eingeschränkte Menschen war das Angebot offenbar nicht attraktiv, schlussfolgert die Forscherin.

Verkehrsberuhigungen würden jedoch nicht zwangsläufig spalten, sagt Jarass. Am Lausitzer Platz in Kreuzberg sei eine deutliche Mehrheit dafür, dass eine Straße für Autos gesperrt wird. Dort hatte die Bezirksverwaltung die Umwandlung beschlossen und die Anwohnenden an der konkreten Umsetzung beteiligt. Dies habe die Diskussion merklich entspannt.

Ein Straßenabschnitt wird dauerhaft gesperrt

Dass immerhin die Hälfte der Anwohnenden den neuen Stadtplatz in Charlottenburg befürwortet, hat Verkehrsstadtrat Oliver Schruoffeneger (Grüne) positiv überrascht. „Bei solchen Projekten nimmt man zunächst immer vor allem die Gegner wahr“. sagt der Grünen-Politiker.

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Schruoffeneger will nun zumindest den Teil des Horstwegs, der nördlich der bisherigen Verkehrsinsel liegt, rasch dauerhaft sperren. Die Änderung will er im Verkehrsausschuss der Bezirksverordnetenversammlung bei der nächsten Sitzung einbringen. Mit Widerstand rechnet er nicht, manche Verordnete verlangten allerdings eine vollständige Sperrung der Kreuzung.

Der SPD-Verordnete Martin Burth etwa bemängelt, dass weniger als 20 Prozent der geplanten Fläche zum Stadtplatz werden. Die Sperrung der nördlichen Verbindungsstraße sei „eine Provokation ohne ernsthaften Nutzen“. Burth wirft Schruoffeneger vor, eine Million Euro genehmigte Mittel für den Stadtumbau in den Jahren 2021 und 2022 nicht abzurufen, weil Planungen fehlen.

Auch Christian Bade von der Stadtplatz-Initiative Horstweg/Wundtstraße ärgert sich. Es sei enttäuschend, dass ein grüner Bezirksstadtrat trotz großer Zustimmung der Anwohner:innen kein Interesse habe, mit diesem Projekt bei der Verkehrswende voranzugehen.

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