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Blick auf die Anklagebank im Auschwitz-Prozess: In der hinteren Reihe links sitzt der ehemalige SS-Oberscharführer Wilhelm Boger. Er wurde wegen Mordes in mindestens fünf Fällen und gemeinschaftlichen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Das Foto entstand am 3. April 1964.

© dpa/picture-alliance

Vor 50 Jahren: Urteile im Auschwitz-Prozess: "Die Schuld ist juristisch nicht zu tilgen"

Am 20. August 1965 endete der erste Prozess um den millionenfachen Mord im NS-Vernichtungslager Auschwitz. Wie bewertete der Tagesspiegel die Urteile damals? Wir dokumentieren den seinerzeit erschienenen Leitartikel im Wortlaut.

Nach zwanzig Verhandlungsmonaten ist das größte Massenmord-Verfahren der deutschen Justizgeschichte, der Prozeß gegen die Bewacher und Henker von Auschwitz, zu Ende gegangen. Der Gerechtigkeit ist genüge getan, soweit menschliche Rechtsprechung nicht zur Wirkungslosigkeit verurteilt ist — angesichts eines irrationalen, wahnwitzigen Völkermordes, der von einer verbrecherischen Staatsführung befohlen und in Szene gesetzt wurde. Unsere Gegenwart mit ihren normalen Rechtskategorien ist so grundverschieden von jenem wüsten Alptraum der Vergangenheit, daß jedes Urteil in seiner Verhältnismäßigkeit versagen muß. In der braunen Mordmaschine waren die Verurteilten nur kleine Rädchen, aber das macht ihre Schuld nicht geringer, weil durch sie zur Tat wurde, was bis dahin nur in kranken Gehirnen und auf papiernen Befehlsbogen existierte. Jeder einzelne von ihnen hat gewußt, daß er in Auschwitz an einem fürchterlichen Verbrechen teilnahm, wenn er auch hoffen mochte, durch einen nationalsozialistischen Endsieg der Bestrafung zu entgehen.

Die meisten Angeklagten leugneten gegen jede Vernunft

Einige der Verurteilten, wie der Sadist Wilhelm Boger, haben ihren Auftrag mit Lust erfüllt und mehr getan, als selbst das Regime verlangte, andere haben versucht, sich den Befehlen zu entziehen. Das juristische Strafmaß eines Rechtsstaates mußte diese unterschiedliche Haltung der Angeklagten und ihre unterschiedliche Beteiligung in der Mordmaschinerie berücksichtigen. „Das Schwurgericht war nicht dazu berufen, die Vergangenheit zu bewältigen“, diese Feststellung des Gerichtsvorsitzenden muß gelten, so bitter es sein mag, die Millionen von Ermordeten gegen die Zahl der Verurteilten aufzuwiegen. Nur vier der Angeklagten bequemten sich, von mehr als 300 in- und ausländischen Zeugen in die Enge getrieben, zu Teilgeständnissen. Die anderen leugneten gegen jede Vernunft. Ihre Einsichtslosigkeit ist ebenso unfaßbar wie ihre Taten. Es war schon eine denkwürdige völkische Auslese, die SS-Elite des Führerstaates.

Das Schlagwort der Verteidigung, von den Kleinen, die man hängt und von den Großen, die man laufen läßt, ist übrigens in diesem Falle unzutreffend. Die Großen hat man in Nürnberg gehängt; soweit sie sich nicht durch Selbstmord der menschlichen Gerechtigkeit entzogen, Eichmann wurde in Israel gerichtet, der Auschwitz-Kommandant Höß in Polen. Sein Nachfolger Baer, der sich nach der Kapitulation als Holzfäller verbarg, wurde von deutscher Polizei aufgestöbert. Er starb in Untersuchungshaft an Kreislaufschwäche, ein halbes Jahr vor Beginn des Prozesses, dessen reinigende Wirkung für das deutsche Volk weniger in den Urteilen, als in der Aufdeckung all jener Ungeheuerlichkeiten liegt, die einst im Namen Deutschlands in dem Vernichtungslager begangen wurden. Der Nebenkläger Henry Ormond, der selbst als rassisch Verfolgter den NS-Staat verließ, hat das Urteil gebilligt, der stellvertretende amerikanische Ankläger von Nürnberg, Robert Kempner, der die Problematik der Kriegsverbrecher-Prozesse kennt, hat es mit Worten hoher Anerkennung bedacht, über die „Enttäuschung“ des SED-Anwaltes Friedrich Karl Kaul kann man ebenso hinweggehen wie über die Funktionärsproteste aus jenem Teil Deutschlands, in dem heute erneut von uniformierten Befehlsempfängern gemordet wird. Proteste davongekommener KZ-Opfer, die nicht fassen können, daß mit diesem Häufchen von Erbärmlichen millionenfache Schuld von Auschwitz gesühnt sein soll, muß man wohl mit Bewegung zur Kenntnis nehmen. Die Schuld von Auschwitz ist juristisch nicht zu tilgen, und man kann dem Kollektivmord keine Kollektivrache entgegensetzen, ohne sich auf die Stufe der Mörder zu begeben.

Ein symbolischer Schlussstrich unter eine blutige Epoche

Die eindringlichen Fragen der Davongekommenen: „Wie konnte das bei euch geschehen?“ „Seid ihr nicht alle mitschuldig?“ „Macht ihr es euch heute nicht zu leicht?“ — alle diese Fragen sind noch immer eine unentrinnbare Bürde für jeden Deutschen, der mit überlebenden ausländischen Opfern der braunen Gewaltherrschaft zusammentrifft. Diese Bürde ist nicht mit Gegenrechnungen und mit individuellen Unschuldsbeteuerungen abzuwälzen, sondern nur mit aufrichtigem Ernst und mit jener Kollektivscham, die Theodor Heuss an die Stelle einer Kollektivschuld zu setzen gewillt war. Dem undifferenzierten Ressentiment und dem Mißtrauen der Davongekommenen gilt es mit Verständnis und mit Würde zu begegnen. In diesem Sinne trägt der erste deutsche Botschafter in Israel eine Last für alle Deutschen. Das Urteil im Auschwitz-Prozeß ist ein symbolischer Schlußstrich unter eine blutige und versunkene Epoche. Die Akkreditierung des deutschen Botschafters in Israel öffnet den Weg in eine Zukunft der Verständigung, die nicht für immer von den Schatten der Vergangenheit verdunkelt werden darf.

Dieser Beitrag erschien am 20. August 1965 als Leitartikel im Tagesspiegel. Der Autor Karl-Heinz Brinkmann leitete von 1961 bis 1991 das Politik-Ressort dieser Zeitung. Im ersten Auschwitz-Prozess verhängte das Schwurgericht Frankfurt am Main nach 183 Verhandlungstagen sechs lebenslange Haftstrafen, eine zehnjährige Jugendstrafe sowie zehn Freiheitsstrafen zwischen dreieinhalb und 14 Jahren. Drei Angeklagte wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen.

Lesen Sie auch: "Eine ganze Bevölkerung wird ins Zuchthaus gesperrt". Leitartikel zum Mauerbau 1961 von Tagesspiegel-Chefredakteur Karl Silex.

Karl-Heinz Brinkmann

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