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Steinerne Tatsachen. Am 13. August 1961 lässt das SED-Regime den Ostsektor Berlins abriegeln. Der Mauerbau trifft die Westalliierten und die Bundesregierung völlig unvorbereitet.

© dpa

Mauerbau vor 54 Jahren: "Eine ganze Bevölkerung wird ins Zuchthaus gesperrt"

Der Westen reagierte hilflos auf den Mauerbau am 13. August 1961. Tagesspiegel-Chefredakteur Karl Silex forderte in einem Leitartikel, die Freiheit Berlins entschieden zu verteidigen. Wir dokumentieren seinen Kommentar im Wortlaut.

Mit einer Frivolität ohne Beispiel haben Chruschtschow und Ulbricht über das Wochenende die Sowjetzone und den Ostsektor von Berlin in ein riesiges Konzentrationslager verwandelt und sechzehn Millionen Menschen hinter den Stacheldraht der kommunistischen Diktatur gepreßt.

In empörendem Rechtsbruch haben sie internationale Verträge zerrissen und mit einer Grausamkeit ohne Beispiel die Unmenschlichkeit zum obersten Gebot ihrer Staatskunst gemacht. Dem Götzen ihres kommunistischen Weltherrschaftsanspruchs haben sie die unglückliche Bevölkerung einst blühender deutscher Länder zum Opfer gebracht. In maßlos gewordener Überheblichkeit haben sie die Vertragspartner der Sowjetunion, das deutsche Volk in seiner Gesamtheit, die freie Welt und das Weltgewissen herausgefordert, das auch hinter dem Eisernen Vorhang, auch in der Unterdrückung, wach geblieben ist.

Vorbei mit der Anerkennung

Wie schwach Chruschtschow die Autorität Ulbrichts einschätzt, geht daraus hervor, daß er seinen Pankower Statthalter hinter einer angeblichen Initiative der Warschauer-Pakt-Mächte versteckt. Damit versucht Chruschtschow einen Teil der Verantwortung auf andere Schultern abzuladen. Auch kommt ein Moment des Mißtrauens, vielleicht sogar einer inneren Schwäche, darin zum Ausdruck, daß er seine Satelliten an die von ihm begangene Ungeheuerlichkeit bindet und sie von vornherein in die Konsequenzen verstrickt.

Die Zone war gewiß noch nie eine Visitenkarte des Ostblocks und des kommunistischen Systems. Die Mißwirtschaft Ulbrichts und die Massenflucht kamen Chruschtschow gerade jetzt besonders ungelegen, wo er der Welt die Sowjetzone als einen "Staat" aufdrängen wollte. Die Aussicht, damit durchzukommen, haben Chruschtschow und Ulbricht verspielt.

Wie die Londoner "Times" schreibt, werde man sich das Land, das man anerkennen und mit dem man Abkommen schließen solle, nun noch einmal ansehen. Es ist vorbei mit der Anerkennung von "zwei deutschen Staaten". Da Chruschtschow kein Dummkopf ist, muß er das einkalkuliert haben. Während seine Reden von Verhandlungssehnsucht triefen, entschied er sich dafür, vollendete Tatsachen zu schaffen.

Er verwirklicht einseitig denjenigen Teil seines Programms, den er aus eigener Machtvollkommenheit in die Tat umsetzen zu können glaubt, ohne schon den Risikofall des bewaffneten Konfliktes auszulösen.

Der Westen muss aus der Defensive heraus handeln

Wir stehen vor der unangenehmen Tatsache, daß der Westen nun wieder einmal aus der Defensive heraus handeln muß. Überlegungen sind im Gange über die Art von Gegenmaßnahmen, die über einen Protest hinausgehen. Es heißt, diese Gegenmaßnahmen sollten "adäquat" sein, also den Maßnahmen des Gegners irgendwie "entsprechen". Aber man faßt sich doch an den Kopf, wenn man hört, woran da zunächst gedacht wird.

Die Ungeheuerlichkeit, mit der eine ganze Bevölkerung ins Zuchthaus gesperrt und der Ostsektor von Berlin in Verhöhnung der drei westlichen Welt- und Großmächte von dem Zwangsregime des Unholds annektiert wird, in der Kategorie von "Reisebeschränkungen" wiederzufinden – das ist denn doch ein starkes Stück!

Nutznießer der Diktatur

Wenn Ulbrichts Funktionäre zu ihren Amüsierreisen in die freie Welt keine westlichen Stempel mehr erhielten — das sollte die Verzweiflung von 16 Millionen Menschen hinter Stacheldraht aufwiegen? Adäquat – darunter verstehen wir, daß die Gegenmaßnahmen dem Grad der Herausforderung entsprechen und den Herausforderer nicht noch zu neuen "risikolosen" Experimenten reizen.

Grenzgänger. Karl Silex, Chefredakteur des Tagesspiegels von 1955 bis 1963, lenkte die Zeitung durch die dramatischen Jahre des Mauerbaus, dem Höhepunkt der Ost-West-Konfrontation.

© Tsp

Es wäre leicht, einen Katalog möglicher Gegenmaßnahmen aufzustellen, aber es erscheint uns richtiger, der Auswahl durch die Männer nicht vorzugreifen, die auf dieser Erde für die Freiheit und Sicherheit die höchste Verantwortung tragen. Aber sie sollen wissen, daß die freien Menschen in ganz Berlin und in der Sowjetzone sich unter angemessenen Gegenmaßnahmen mehr vorstellen als Reisebeschränkungen für privilegierte Helfershelfer und Nutznießer der Diktatur.

Angriff auf die Berliner Position der Westmächte

Die vom Bundeskanzler angedeuteten Sanktionen entsprechen unseren Vorstellungen schon besser. Dabei wollen wir uns als Berliner keinesfalls dem Vorwurf aussetzen, daß wir nicht zu unterscheiden wüßten. Man braucht uns nicht erst zu sagen, daß die Selbstabriegelung des kommunistischen Blocks innerhalb seines angemaßten Machtbereiches etwas anderes ist als die Unterbindung der freien Berlin-Verbindungen oder gar ein direkter Angriff auf die Berliner Position der Westmächte.

Man braucht uns nicht zu sagen, daß die Reaktion des Westens dann so massiv sein wird, wie es die Lage zum Schutz von Sicherheit und Freiheit erfordert. Das wissen wir, darauf vertrauen wir und darauf verlassen wir uns. Aber der Überfall, der in diesen Tagen riskiert wurde, spiegelt ja gerade die raffinierte Taktik des Kommunismus wider, sich stufenweise an die Unterminierung der westlichen Position so heranzutasten, daß der massive Konfliktsfall umschlichen und die Überschreitung der vom Westen abgesteckten Grenzen nicht eklatant bemerkbar wird.

Davon, wie der Westen jetzt reagiert, wird es, wie die "New York Times" völlig richtig erkannt hat, abhängen, ob "diese erste Bruchstelle in der Mauer der Rechte um Berlin" in den kommenden Monaten noch weiter aufgerissen wird oder nicht.

Der Beitrag erschien am 15. August 1961 im Tagesspiegel. Karl Heinrich Silex (1896-1982) war 1955 bis 1963 Chefredakteur des Tagesspiegels. Von 1933 bis 1943 leitete er die Redaktion der "Deutschen Allgemeinen Zeitung" (DAZ) und versuchte, in dem Blatt der allgegenwärtigen NS-Propaganda zu trotzen und eine unabhängige-bürgerliche Stimme zu bewahren. Silex gehörte dem "Führerrat der Deutschen Presse" an, trat aber nie der NSDAP bei. Er war mit dem Hitlergegner General Henning Graf von Tresckow befreundet, jedoch nicht wie dieser an den Vorbereitungen zum gescheiterten Umsturz vom 20. Juli 1944 beteiligt. Einen Hintergrundbeitrag zu Karl Silex und den Tagen des Mauerbaus 1961 lesen Sie hier.

Karl Silex

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