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Anja Hahlweg, Sascha Ubrig, Daniel Fischer und Katja Macheleidt (von links nach rechts) sind ein eingespieltes Team.

© Ronald Patrick

Starke Stimme für Teilhabe: Berliner Lebenshilfe erhält den Inklusionspreis

Bei der Berliner Lebenshilfe kümmert sich ein hauptamtlicher Selbstvertreter um Belange von Menschen mit Beeinträchtigung. Ein mutiger Schritt, der bundesweit Nachahmer findet.

Von Klaus Grimberg

Die Zusammenarbeit von Sascha Ubrig und seinen beiden Assistentinnen ähnelt in vielerlei Hinsicht dem Teamwork von Minister:innen oder Staatssekretär:innen und ihren Beraterstäben. Wie Politiker:innen tritt auch Ubrig auf vielen Veranstaltungen auf, hält Vorträge, spricht Grußworte oder diskutiert auf Podien. Dabei setzt er sich für die Belange von Menschen mit kognitiven Einschränkungen ein und ganz allgemein für Inklusion, Partizipation und Selbstbestimmung.

Ubrig weiß genau, worüber er spricht: Denn er selbst ist kognitiv beeinträchtigt. Deshalb bereiten seine beiden Assistentinnen ihn inhaltlich auf die öffentlichen Termine vor: Sie besprechen mit ihm den Kontext der Veranstaltung und überlegen gemeinsam mit ihm, was dort besonders wichtig ist. Das gibt Ubrig die nötige Sicherheit für sein öffentliches Engagement.

„Wir haben absolutes Neuland betreten“

Viele Jahre hat der 43-Jährige diese Tätigkeit ehrenamtlich gemacht. „Hauptberuflich habe ich als Küchenkraft in einem Restaurant gearbeitet, in einer Morgen- und einer Abendschicht“, erzählt Ubrig. Als Mitglied des Berliner Rats, den die Lebenshilfe Berlin 2001 als Forum für Menschen mit Beeinträchtigung initiiert hat, wurde er schon früher immer wieder als Redner oder Gesprächspartner bei Diskussionen angefragt. „Das war manchmal sehr stressig: Ich musste meine Schichten tauschen oder nach der Arbeit schnell zu einem Termin hetzen“, erinnert sich Ubrig. Bisweilen klappte es auch nicht und er musste eine Veranstaltung absagen.

Im Berliner Landesverband der Lebenshilfe war bereits 2014 die Idee entstanden, Menschen mit Beeinträchtigung ein stärkeres Gewicht zu verleihen und deshalb eine hauptamtliche Stelle für einen Selbstvertreter zu schaffen. „Damit haben wir absolutes Neuland betreten, auch was eine mögliche Förderung für einen solchen Arbeitsplatz betrifft“, erinnert sich Daniel Fischer, Geschäftsführer des Berliner Landesverbandes. Nach einigem Hin und Her beschloss der Landesverband schließlich, die Stelle komplett aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Ein mutiger Schritt: Denn nicht nur der Stelleninhaber muss bezahlt werden, sondern auch seine Assistentin, die in allen inhaltlichen Fragen als Gesprächspartnerin und Beraterin zur Seite steht. Die nötige technische Ausstattung kommt noch hinzu.

Am Anfang war ich bei meinen Auftritten oft sehr nervös und manchmal auch ein bisschen ungeduldig, wenn Sachen mir zu lange gedauert haben.

Sascha Ubrig, Selbstvertreter für Menschen mit Beeinträchtigung im Berliner Landesverband der Lebenshilfe

„Als möglichen Kandidaten haben wir dann Sascha Ubrig im Berliner Rat gewissermaßen entdeckt“, berichtet Anja Hahlweg, Leiterin des Büros für Selbstvertretung bei der Lebenshilfe Berlin. Ubrig kann sich noch gut erinnern, als man ihn fragte, ob er sich diese Aufgabe vorstellen könne. „Für mich war das eine große Herausforderung“, erzählt er, „aber dann habe ich doch nicht lange überlegt.“

Ubrig bewarb sich auf die ausgeschriebene Stelle und trat sein neues Amt am ersten Februar 2015 mit einer Wochenarbeitszeit von 30 Stunden an. Anja Hahlweg wurde zu seiner ersten „Verstehensassistentin“, wie sie selbst ihre Aufgabe beschreibt. Mittlerweile ist mit Katja Macheleidt eine zweite Assistentin hinzugekommen, sodass die beiden Frauen sich gegenseitig vertreten und ergänzen können.

Eine aufrichtige Stimme in Sachen Teilhabe

In den knapp neun Jahren seiner hauptamtlichen Tätigkeit hat sich Sascha Ubrig in Berlin und weit darüber hinaus als authentischer und engagierter Interessenvertreter für die Belange von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung einen Namen gemacht. Er tritt regelmäßig bei Fachtagungen, Kongressen, Parteiveranstaltungen und Demonstrationen als Referent und Redner auf. In Politik und Verwaltung wird er als eine aufrichtige Stimme wahrgenommen – und ein zuverlässiger Partner, mit dem man intensiv und bisweilen auch kontrovers über Mitbestimmungsrechte und Teilhabemöglichkeiten diskutieren kann.

„Am Anfang war ich bei meinen Auftritten oft sehr nervös und manchmal auch ein bisschen ungeduldig, wenn Sachen mir zu lange gedauert haben“, erzählt Ubrig. Da habe ihm die Zusammenarbeit und der Austausch mit seinen Assistentinnen sehr geholfen. „Über die Jahre haben wir gemeinsam ein Gespür dafür entwickelt, wie und wo man bestimmte Forderungen am besten vorbringt und formuliert“, ergänzt Anja Hahlweg. Ihr und ihrer Kollegin ist dabei besonders wichtig, sich selbst zurückzunehmen und Sascha Ubrig nicht in irgendeine Richtung zu beeinflussen, sondern über inhaltliche Fragen im Team nachzudenken und nach Lösungen zu suchen.

Eingespieltes Team: Anja Hahlweg, Sascha Ubrig, Katja Macheleidt und Daniel Fischer (von links nach rechts) vom Berliner Landesverband der Lebenshilfe
Eingespieltes Team: Anja Hahlweg, Sascha Ubrig, Katja Macheleidt und Daniel Fischer (von links nach rechts) vom Berliner Landesverband der Lebenshilfe

© Ronald Patrick

Bundesweit ist Ubrig nach wie vor der einzige hauptamtliche Selbstvertreter für Menschen mit Beeinträchtigung. Seine Stelle ist zum Vorbild geworden für andere Städte und Gemeinden, die darüber nachdenken, ähnliche Arbeitsplätze zu schaffen. Immer wieder gehen Anfragen bei der Berliner Lebenshilfe ein, wie die Stelle finanziert und wie sie inhaltlich ausgestaltet ist, zuletzt etwa aus Köln oder aus Soltau in Niedersachsen. Ubrig und seine beiden Assistentinnen treten dann als Berater auf, berichten von ihren Erfahrungen und geben Tipps. Denn natürlich würden sie sich darüber freuen, wenn das Berliner Beispiel bundesweit Schule macht und vergleichbare Stellen auch andernorts eingerichtet werden.

Innerhalb des Berliner Landesverbandes der Lebenshilfe ist Ubrig nicht der einzige Mensch mit einer Beeinträchtigung. Im Referat Sozialpolitik arbeitet eine hörbehinderte Juristin, im Betreuungsverein eine Mitarbeiterin mit einer chronischen Erkrankung. Insgesamt sind im Landesverband 18 Mitarbeiter:innen beschäftigt. Über alle Details ihrer Arbeit informiert die Berliner Lebenshilfe übrigens in ihrem jährlichen Geschäftsbericht. Wer den liest, nimmt schnell wahr, dass die Arbeit von Sascha Ubrig auch intern Früchte trägt und der Verein beim Thema Inklusion vorangeht: Sämtliche Kapitel werden am Ende in leichter Sprache noch einmal zusammengefasst – um möglichst viele Menschen zu erreichen.

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