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Eine Schülerin der Werkstufe im Physiklabor.

© Kitty Kleist-Heinrich/Tagesspiegel

Fit für den ersten Arbeitsmarkt: Einzigartiges Projekt in Berlin-Schöneberg für Jugendliche mit geistigen Einschränkungen

Die Sophie-Scholl-Schule will das Selbstbewusstsein sogenannter GE-Schüler stärken und ihnen neue berufliche Perspektiven eröffnen. Dafür braucht es Praktika – doch die sind häufig rar.

Zeynep* hält das Reagenzglas unter den Wasserstrahl, dann hebt sie es unters Licht. Ist okay, das Glas ist sauber. Also, das nächste, das vierte, das sie in diesem Arbeitsgang putzt.

Die Schülerin trägt dünne Plastikhandschuhe und einen weißen Laborkittel. Im Raum steht ein Glasschrank mit Reagenzgläsern, auf einer Arbeitsplatte liegen Messgeräte. Es ist eine typische Szene, wie es halt aussieht im Physiklabor der Sophie-Scholl-Schule in Schöneberg, einer Integrierten Sekundarschule mit gymnasialer Oberstufe.

Zeynep arbeitet gelassen, sie spült die Gläser aus und stellt sie ins Regal. Ihre Lehrerin Corinna Fricke steht daneben und beobachtet die 18-Jährige. Ein normaler Schultag, Routine.

Die Putzaktion mit den Reagenzgläsern ist eine Demonstration

Routine? Die Putzaktion ist eine kleine Demonstration. Zeynep zeigt gerade, was sie drauf hat. „Dass sie vor fremden Besuchern spülen kann, ist ein Fortschritt. Vor einem Jahr hätte sie das nicht gekonnt“, sagt Corinna Fricke. Sie ist auch keine Physiklehrerin, die Pädagogin unterrichtet Deutsch und Sport.

Auch die Uhrzeit ist Thema des Unterrichts.
Auch die Uhrzeit ist Thema des Unterrichts.

© Kitty Kleist-Heinrich/Tagesspiegel

Aber sie ist auch Sonderpädagogin, und deshalb sind sie und Zeynep gemeinsam Teil eines in Berlin einmaligen Projekts, das führt sie zusammen. GE-Schüler – Kinder und Jugendliche mit dem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ – erhalten eine neue berufliche Perspektive. Dieses Ziel ist Kern des Projekts.

Antwort auf unbefriedigende Situation

Die Sophie-Scholl-Schule hat es im Schuljahr 2021/2022 eingeführt. In einer sogenannten Werkstufe absolvieren in diesem Schuljahr sechs Schüler jahrgangsübergreifend das elfte und zwölfte Schuljahr. Vier der Schüler sind Elftklässler, sie werden noch ein Jahr an der Schule bleiben.

Es ist die Antwort auf eine unbefriedigende Situation. „Wir und die Eltern haben in den vergangenen Jahren zunehmend die Erfahrung gemacht, dass die sonderpädagogischen Berufsschulen immer seltener unsere Schüler nach der zehnten Klasse aufgenommen haben“, sagt Corinna Fricke. „Nach zehn Jahren inklusiver Beschulung bleibt dann immer öfter als Alternative nur ein Förderzentrum.“

Doch die GE-Schüler sollen auf dem ersten Arbeitsmarkt unterkommen, in einer Form, die ihren Fähigkeiten entspricht: einfache Tätigkeiten, für die man gerne Hilfe annimmt.

Ich habe die Kinder zum Essen und zum Sportplatz begleitet. Und ich habe sie getröstet, wenn sie gekommen sind und geweint haben.

Marco (17), Schüler der Werkstufe, über sein Praktikum in einer Kita

Corinna Fricke bereitet sie gemeinsam mit der sonderpädagogischen Unterrichtshilfe Siham Refaie und einer weiteren Sonderpädagogin darauf vor. Sie alle arbeiten in Vollzeit. Die Deutsch- und Sportlehrerin Fricke erledigt neben der Werkstufe ihr normales Unterrichtspensum, es gibt kein zusätzliches Personal für das Projekt.

Jede erfolgreiche Tätigkeit stärkt das Selbstbewusstsein

Die Schüler erhalten Unterricht in Deutsch, Mathematik und Naturwissenschaften. Es gibt auch Projekttage zu aktuellen Themen aus Politik, Kultur und Gesellschaft.

Vor allem aber übernehmen die Schüler kleinere Aufträge, die in der Schule anfallen. Gläserputzen im Labor gehört dazu, aber Zeynep hat auch schon Batterien in Taschenrechnern ausgewechselt. „Die Schüler und Schülerinnen haben zum Beispiel Sand für die Sprunggrube auf dem Sportplatz verteilt“, sagt Corinna Fricke. „Wir suchen möglichst Sachen, die sie selber machen können.“ Jede erfolgreiche Tätigkeit stärkt das Selbstbewusstsein.

Deshalb haben die drei festen Praktika in Betrieben außerhalb der Schule eine enorme Bedeutung. In jedem Schuljahr sind sie Pflicht. 

Praktikum in der Poststelle einer Bundestagsfraktion

Schwenk in eine Schulstunde der Werkstufe, die Schüler sind im Klassenzimmer verteilt. Marco trägt einen blauen Hoodie, er erzählt von seinem Praktikum in der Kita Barbarossahütte. „Ich habe die Kinder zum Essen und zum Sportplatz begleitet“, sagt der 17-Jährige. „Und ich habe sie getröstet, wenn sie gekommen sind und geweint haben.“

Jonas, ein 17-Jähriger in einem Muskelshirt, hat in einer Gärtnerei geholfen und in einem Architekturbüro gearbeitet. Zeynep hat in einem Blumenladen Rosen verkauft und Maria, eine 18-Jährige, die ein wunderschönes fliederblaues Kleid trägt und gerne tanzt, hat in der Poststelle einer Bundestagsfraktion Notizblöcke und andere kleine Präsente in große Tüten gesteckt. Einfache Arbeiten, aber für die Schüler motivierend.

Entspannung gehört auch zum Unterricht.
Entspannung gehört auch zum Unterricht.

© Kitty Kleist-Heinrich/Tagesspiegel

Eltern der Schüler haben bei der Vermittlung der Praktika geholfen, Corinna Fricke hatte die Väter und Mütter zuvor um Mithilfe gebeten. Entweder kamen die Schüler im familiären Büro unter oder enge Bekannte vermittelten die Jobs. Aber trotzdem wird die Suche nach Praktikumsplätzen immer aufwendiger. „Ich putze Klinken“, sagt Corinna Fricke. Sie sucht händeringend weitere Stellen für Praktika.

Werkstatt oder erster Arbeitsmarkt?

Die beiden Zwölftklässler der Werkstufe gehen nach diesem Schuljahr ab. Ein Jugendlicher wird in einem Berufsbildungswerk eine schulische Ausbildung im Verwaltungsbereich machen. „Wir hätten ihm eine Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt zugetraut“, sagt Corinna Fricke, „aber so ist es auch in Ordnung.“

Die andere Jugendliche schwankt noch, ob sie auf dem ersten Arbeitsmarkt eine unterstützende Tätigkeit als Assistentin übernehmen oder in eine Behindertenwerkstatt gehen soll.

Im kommenden Schuljahr werden zwei GE-Schüler der zehnten Klasse in die Werkstufe nachrücken, für zwei weitere Plätze gibt es zumindest externe Interessenten. Aber mehr als acht Plätze wird die Werkstufe nicht haben.

Das Selbstbewusstein der Schüler soll gestärkt werden

Im Unterricht der Werkstufe steht jetzt die Uhrzeit auf dem Programm. Auf einer großen Uhr stehen die Zeiger auf 13.30 Uhr. „Wie spät ist es?“, fragt Siham Refaie, die pädagogische Mitarbeiterin. „Halb zwei“, antwortet Fatima. – „Und wie kann man das noch sagen?“ – „14.30 Uhr“, sagt Jessica. Dann zögert sie. Ein paar Sekunden später schiebt sie nach: „13.30 Uhr.“ Bravo, passt. „Der kleine Zeiger ist an der 13 vorbeigegangen, aber noch nicht bei der 14 angekommen“, erklärt Sihan Refaie geduldig.

Kleine Schritte, die nach und nach in die Welt des Berufsalltags führen. „Wir zeigen den Kindern, welche Jobs es gibt und wollen ihnen den Rücken stärken“, sagt Corinna Fricke.

Das funktioniert schon mal ganz gut. Jonas zeigt mal kurz seine Muskeln, dann erklärt er nachdrücklich: „Ich möchte Polizist werden oder Rechtsanwalt.“ Zeynep möchte gerne in einem Museum arbeiten. Wenn sie in flüssigen Sätzen erzählt, dass sie sich für Japan und dessen Mythologie interessiert, dann merkt man bei ihr am wenigsten, dass sie einen GE-Status hat.

Man muss im Physiklabor schon Corinna Fricke fragen, um herauszufinden, wann die Schülerin überfordert ist. „Wenn sie Experimente vorbereiten müsste“, sagt die Pädagogin, „dann könnte sie das nicht.“

*Namen aller Schüler geändert

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