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Eine Fingermassage in warmem Wasser gehört zur Wohlfühl-Betreuung der Senioren.

© Lydia Hesse/Tagesspiegel

„Sie erzählen dann Geschichten von früher“: Wie demente Berliner Senioren aus ihrer Welt geholt werden

Das Seniorenheim Müggelschlösschenweg benötigt Hollywoodschaukeln, um bei dementen Bewohnern schöne Erinnerungen zu wecken. Der Tagesspiegel bittet um Spenden.

Von Matteo Melk

Martha Moorberger (Name geändert) hat die Augen geschlossen, ihre Gesichtszüge sind entspannt, die 93-Jährige genießt diese Momente. Ihre Finger sind in eine Schüssel mit warmem Wasser getaucht, eine Pflegerin massiert die Finger mit sanften Bewegungen. Im Wasser sind Ringelblumenblüten aufgeweicht, sie regen die Durchblutung an, steigern vor allem aber das Wohlgefühl.

In dem Wohlfühlraum des Köpenicker Seniorenheims Müggelschlösschenweg geht es ganz um einen Dreiklang: Fühlen, Riechen, Schmecken. Drei Senioren werden hier massiert, Pfleger reden leise mit ihnen, Blütenduft liegt in der Luft.

Heike Sujata, die Leiterin des von der Stadtmission betriebenen Heims, beobachtet die Szenerie, und sagt: „Wir haben nicht nur die Aufgabe, den Senioren etwas Gutes zu tun. Wir stärken hier auch die Selbstwahrnehmung.“

Demente Menschen leben von ihren Erinnerungen

150 Senioren leben in dem lichtdurchfluteten Gebäude, sie sind zwischen 65 und 101 Jahre alt. Rund 70 Prozent haben Demenz in unterschiedlicher Ausprägung. „Tendenz steigend“, sagt Heike Sujata.

Demente Menschen leben von ihren Erinnerungen, Bilder aus der Vergangenheit holen sie für kurze Zeit aus der abgeschlossenen Welt, in die sie für immer abgetaucht sind. Und genau diese Erinnerungen will das Seniorenheim mit Hilfe von Spendengeldern des Tagesspiegel wieder wecken.

Schritte im Wasser lösen so ein Gefühl aus. „Die Menschen kennen das von früher“, sagt Pflegedienstleiterin Sina Lange, „als sie durch einen Bach gewatet sind.“ Deshalb sollen zwei Bäder umgebaut werden. In einem davon soll ein Indoor-Kneipp-Anwendungsbad erreichtet werden. In solchen Bädern können sich Seniorinnen und Senioren an einem Handlauf festhalten, eine Pflegekraft ist immer dabei, damit nichts passiert. Für viele ältere Menschen ist Baden in einer feststehenden Badewanne nicht mehr möglich.

Die Senioren sollen ihre Körper wieder besser fühlen

Mit dem Kneipp-Becken will das Seniorenheim nicht bloß Demenzkranken helfen, sondern auch Menschen, die einen Schlaganfall erlitten haben und nun halbseitig gelähmt sind. Sie könnten im Wasser ihren Körper wieder besser als sonst fühlen. Somit würde das geplante Becken das Wohlbefinden der Seniorinnen und Senioren deutlich steigern. Doch das Becken kostet viel Geld. Deshalb möchte das Seniorenheim den Einbau auch mit Mitteln der Spendenaktion finanzieren.

Die Schritte im Wasser sind Teil der bekannten Kneipp-Kur. Viele Menschen nutzen die Behandlungsmethoden, die der Pfarrer Sebastian Kneipp einst entwickelt hat. Im Seniorenheim Müggelschlösschenweg spielen sie eine bedeutsame, fast schon zentrale Rolle. Sie gehören zur Therapie und der allgemeinen Betreuung.

Sie tanzen begeistert Walzer

Im Tagesraum des Wohnbereichs 2 findet gerade eine ganz andere Form der Betreuung statt. Pflegerin Jeanine Laschinski steht mitten im Zimmer, hebt erst die Hand und dann die Stimme.

Kommt jetzt etwas Besonderes? Na klar. „Jetzt kommt der Walzer, den alle mögen. Sie dürfen jetzt schwingen“, verkündet Jeanine Laschinski strahlend.

Pflegerin Jeanine Laschinski leitet die Seniorinnen und Senioren fröhlich zu Bewegungen an.
Pflegerin Jeanine Laschinski leitet die Seniorinnen und Senioren fröhlich zu Bewegungen an.

© Lydia Hesse/Tagesspiegel

Darauf haben die zehn Seniorinnen und Senioren gewartet. Aus einem Kassettenrekorder schallt eine Polka, 20 Hände wedeln begeistert mit farbigen Tüchern. Sekunden später klatscht die ganze Gruppe im Rhythmus der Musik, mal in die Hände, mal auf die Schenkel.

Partystimmung im Tagesraum des Wohnbereichs 2, und mittendrin Jeanine Laschinski, als Mischung aus Animateurin, Pflegekraft und Dichterin. „Wenn die Beine nicht mehr flitzen, tanzen wir im Sitzen“, reimt sie. Und die Senioren, einige im Rollstuhl, schwingen nach links, nach rechts, nach vorne, Sport der altersgerechten Art.

Bewegung ist Teil der Kneipp-Kur

„Und jetzt waschen wir Wäsche“, sagt Jeanine Laschinski, die Senioren simulieren die Bewegungen. Und damit es nicht zu langweilig wird, gibt es neue Gedichte: „Wir sind noch müde und sitzen im Kreis, doch mit der Gymnastik wird uns gleich ganz heiß.“ Natürlich geht bei den Übungen auch um Spaß. „Aber Bewegung“, sagt Heike Sujata, „ist auch ein Teil der Kneipp-Heilkunde“.

Ein paar Minuten später steht sie im Garten des Heims, einer Grünanlage mit hohen Bäumen, einem Teich, Bänken und vielen Pflanzen. Viele sind so gepflanzt, dass man sie auch vom Rollstuhl aus gut greifen kann.

Die Schaukel ist ein Treffpunkt für alle

Irgendwann zeigt Heike Sujata dann nach oben, zum vierten Stock. Dort steht auf einem Balkon eine orangefarbene Hollywoodschaukel. Es ist die derzeit einzige, die es hier gibt.

Derzeit gibt es im Heim nur eine Hollywoodschaukel.
Derzeit gibt es im Heim nur eine Hollywoodschaukel.

© Lydia Hesse/Tagesspiegel

Auch die Hollywoodschaukel weckt bei Dementen Erinnerungen. Schaukeln, das kennen sie aus ihrer Kindheit. Die Schaukel auf dem Balkon ist heiß begehrt, alle können sie nutzen. Pfleger sitzen hier neben Bewohnern, sie schaukeln gemeinsam, und die Mitarbeiter erzählen dabei Geschichten, die sie gehörten haben, oder eigene Erlebnisse.

Die dementen Bewohner genießen diese Momente. Das gleichmäßige Schaukeln streichelt ihre Seele. In diesem Zustand erzählen fast alle Senioren aus ihrem Leben. Für ein paar Sekunden haben sie ihre abgeschlossene Welt verlassen und schwärmen von den Bildern ihrer Vergangenheit.

Sechs neue Schaukeln sind für das Heim nötig

Die Schaukel, sagt Heike Sujata, „ist ein Treffpunkt für alle“. Und genau hier liegt das Problem. Eine Schaukel für 150 Bewohner, das ist kein gutes Verhältnis. Deshalb wollen Heike Sujata und ihre Mitarbeiter dieses Verhältnis ändern. Mehr Schaukeln auf den Balkon, dann können mehr Menschen darauf sitzen und müssen nicht ewig warten.

In den vergangenen Jahren hat die Zahl der Menschen, die an Demenz leiden, stetig zugenommen, und es werden immer mehr. 

Heike Sujata, Leiterin des Seniorenheims Müggelschlösschenweg

Sechs neue Exemplare möchte die Heimleiterin anschaffen, mit Mitteln der Spendenaktion. „In den vergangenen Jahren“, sagt sie, „hat die Zahl der Menschen, die an Demenz leiden, stetig zugenommen, und es werden immer mehr.“

Auch die Zahl der Verstorbenen im Heim hat 2021 einen Höchststand erreicht. Heike Sujata führt diese Entwicklung darauf zurück, dass die Menschen in immer höherem Alter ins Pflegeheim gebracht werden. Die Zahl der freien Plätze ist einfach zu gering, als dass jeder zu einem jeweils angemessenen Zeitpunkt ins Heim wechseln könnte.

Martha Moorberger ist bei der Fingermassage inzwischen richtiggehend eingeschlafen. Sie hat den Kopf leicht in den Nacken gelegt, die Gesichtszüge sind unverändert entspannt, ihre Finger liegen immer noch im Wasser, die Pflegerin massiert weiter. Und Heike Sujata lächelt zufrieden.

Dieses Bild von Martha Moorberger ist eine Erfolgsnachricht. „Denn schlafen“, sagt die Heimleiterin, „ist hier völlig normal. Wenn sie sich geborgen und sicher fühlen, dann nicken sie ein.“

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