zum Hauptinhalt
Jutta Karow

© privat

Nachruf auf Jutta Karow: Was soll schon passieren?

Schneiderin, Vertreterin, Model, Malerin - sie dachte gar nicht daran, sich festzulegen.

Wenn man das Glück ihrer Kindheit riechen könnte, es würde nach Stall riechen. Denn da waren die Pferde, groß und stark; abends, wenn die Knechte sie von der Weide brachten, mussten sie durch den Ententeich stapfen, um den Dreck von den Hufen zu bekommen. Dann gab es frisches Heu in die Boxen und Luzerne dazu. Oben auf dem Heuboden trippelten die Mäuse, unter dem Gebälk segelten die Schwalben.

Rosa war die sanfteste der Kühe. Sie ertrug es, dass Jutta mit ihren Kinderhänden an ihrem Euter herumdrückte, um endlich diese Milch herauszubekommen. Und dann die kleinen Lämmer, die der Schäfer ihr auf den Arm setzte, so weich war die Wolle, mit einer richtigen Dauerwelle drin, und sie rochen so gut nach Wiese, nach Milch. Und abends saßen die Knechte, Mägde und Gesellen zusammen, sangen Lieder, ließen das Schifferklavier erklingen, sodass das Lachen und Singen über den Hof und zu ihr hinauf ins Kinderzimmer schallte.

Jutta wuchs in Pommern auf. Ihr Vater war der Besitzer einer Mühle, hatte einen großen Bauernhof mit Kühen, Schweinen, Pferden, Hühnern, Schafen, Tauben, Perlhühnern, Gänsen und Puten. Und mittendrin Jutta. Sie spielte mit ihren Freunden im alten Gehöft verstecken oder ließ sich vom Familien-Kutscher nach Jägerthal zum Pilzesammeln fahren.

Im Sommer schien die Sonne aufs Feld mit den Mohnblumen, Kornblumen, weißen Margeriten drin. Im Winter fror es, die Menschen trugen Ohrenschützer und hatten rote Nasen, und es lag so viel Schnee, dass man die Kinder gar nicht mehr sah.

Es gäbe noch so viel zu berichten, von dieser Kindheit, vom Dorflehrer, der alle Kinder in einer Klasse unterrichtete. Vom Opa, der jeden Morgen fischen ging, vom Vater, der Jutta mit auf den Hochsitz nahm und mit ihr darauf wartete, dass sich der Morgen rötete und die Tiere des Waldes erschienen. Ihre Kindheit, malerisch, behütet, fernab von allen Widrigkeiten, die behielt sie in sich, die sollte sie nie wieder verlieren. Es waren Erinnerungen, die so stark waren, dass es sie nicht umwarf, als die Familie mit dem Krieg alles zurücklassen musste.

Jutta war eine Frau, von der viele begeistert waren. Gut gelaunt, direkt und offen, ausgestattet mit einer gewissen Naivität und einem großen Vertrauen in die Menschen. Klar, ließ sie die Tür für die Handwerker auf, was sollte schon passieren? Wenn mal etwas geklaut wurde, oder wenn sie mal von einer vermeintlichen Freundin ausgenutzt wurde, dann hielt sie das beim nächsten Mal nicht davon ab, die Wohnungstür oder das Herz wieder weit zu öffnen.

Dann lockte die Welt

Neuanfang in Schleswig-Holstein. Die Mutter baute einen erfolgreichen Reifenhandel auf. Jutta machte ihren Realschulabschluss im Internat, dann lockte die Welt. Erst tourte sie mit einer französischen Pantomime-Truppe durch das Rheinland. Dann machte sie eine Schneiderlehre, nähte Handpuppen, die sie selbst verkaufte. Zwischendurch modelte sie, und später arbeitete sie als Verkäuferin in einer Herrenboutique oder tingelte als Vertreterin für Garn und Polyesterstoffe von Geschäft zu Geschäft.

Jutta war frei und selbstständig und dachte gar nicht daran, sich hier oder dort festzulegen. Sie hatte Liebschaften, und sie liebte es, zu feiern und zu tanzen und das Leben zu genießen. Fest binden wollte sie sich nicht. Wenn sie die Künstlerkneipe in München betrat, groß, schlank, schön, wechselte der Pianist den Song und spielte für sie „Ein Schiff wird kommen“. Eine Schnulze über ein Mädchen aus Piräus, dass am Hafen auf den einen Matrosen wartet.

Es war auch diese Kneipe, in der ein junger Soldat sie entdeckte und begeistert war. Er forderte sie zum Tanz auf, doch sie lehnte ab und machte einen Spruch. Den fand er so doof, dass er gleich wieder gehen wollte, da packte sie ihn am Arm, zog ihn zu sich heran und flüsterte in sein Ohr: „Du wolltest doch tanzen.“ Dann tanzten sie, und er war sicher auch ein bisschen verliebt. Doch sie wurden kein Paar, sondern gute Freunde fürs Leben.

Jutta malte, schon ihr ganzes Leben lang. Als sie etwa 30 war, bewarb sie sich in Hamburg auf der Kunsthochschule. Sie studierte und geriet in Kreise, in denen sie erstaunliche Leute kennenlernte. Mit Günter Grass, Loriot und Romi von Bülow, mit Joseph Beuys und Horst Janssen war sie befreundet, allesamt in etwa ihr Jahrgang.

Jutta malte Szenen ihrer Kindheit, Alltagsszenen, alles in starken und schönen Farben, Menschen am See, eine wilde Schlittenfahrt, ein Festessen, ein Picknick, die Paris Bar in West-Berlin, ein Kamelrennen in Hoppegarten. Sich selbst mit Hund und mit Katze. Auf einem Bild sitzt eine Dame auf einem Stuhl, rechts von ihr eine Katze, links ein Mann, dessen Kopf nicht mehr im Bild zu sehen ist, Titel: „Der unbekannte Liebhaber“. Viele haben ihre Malerei als naiv bezeichnet. Günter Grass schrieb: „Jutta Karow erzählt malend Märchen. Ihre Blumen welken nicht. Sie verzaubert uns: weg aus der graustichigen in ihre farbgesättigte Welt. Und auch ich komme von ihr, der bildgewordenen Liebe meiner jungen Jahre, nicht los.“

[Die anderen Texte unserer Nachrufe-Rubrik lesen Sie hier,
weitere Texte des Autors, Karl Grünberg, lesen Sie hier]

Und schließlich, da war sie 40, kam ein jüngerer Mann, ihr Matrose. Für ihn wurde sie sesshaft, zog an den Schlachtensee in Berlin. Sie bekamen erst einen Sohn, dann eine Tochter. Doch er verließ sie und die Kinder. Das verletzte sie tief.

Sie zog mit den Kindern in eine kleine Wohnung, das Budget war knapp, sie malte und verkaufte alle ihre Bilder, übernahm Auftragsarbeiten, sprach im Rundfunk Texte ein, bastelte wieder ihre Puppen. Natürlich lud sie ihre Freunde weiterhin zu sich ein, dann gab es eben günstigen Rotwein und Schmalzstullen. Oder sie machte ihren „Pommerschen Kaviar“: Hering mit Apfel und Zwiebel darunter, ganz klein auf Toast.

Sie zeigte ihren Kindern, wie man sich am Leben erfreuen kann, am Flieder, am Sonnenuntergang, am Regen. Mal war sie die Grande Dame, die Schöne und immer das Mädchen vom Lande.

Einmal kam der Hausarzt zu ihr, untersuchte sie, und als alles getan war, sagte sie: „Gehen Sie nicht!“ – „Was soll ich denn jetzt noch machen?“ – „Kopf stehen und lachen und mit dem Arsch Fliegen fangen!“

Im Frühling 2020 ist sie gestorben.

[Wir schreiben regelmäßig über nicht-prominente Berliner, die in jüngster Zeit verstorben sind. Wenn Sie vom Ableben eines Menschen erfahren, über den wir einen Nachruf schreiben sollten, melden Sie sich bitte bei uns: nachrufe@tagesspiegel.de. Wie die Nachrufe entstehen, erfahren Sie hier.]

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false