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Alle längst gestorben, so viel ist wahr. Ein Fasching 1907.

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Die ganze Wahrheit?: Wie unsere Nachrufe entstehen

Wir schreiben regelmäßig über das Leben Nicht-Prominenter. Bericht über eine seltene journalistische Gattung und über die Frage, wie wahr ein Nachruf sein kann.

Von David Ensikat

Im Herbst des Jahres 2000 erschienen auf der freitäglichen Nachrufseite im Tagesspiegel nacheinander zwei Nachrufe auf ein und denselben Mann. Über dem ersten Text stand nur ein Name: „Ernst Müller“, über dem zweiten ein paar mehr: „Ernst Müller alias Marco von Lobkowicz alias Herbert von Gmachler alias Roberto Sbogetoni“. Über beiden stand immerhin dasselbe Geburtsjahr, 1918, von dem bis heute niemand sagen kann, ob es stimmt.

Der Mann war ein Hochstapler, der sich im Laufe seines Lebens nicht nur ein paar Hunderttausend Mark erschwindelt hat, sondern auch diverse Identitäten, darunter die eines Auschwitz-Überlebenden, als der er Vorträge hielt und der „Shoah Foundation“ ein vierstündiges Interview gab.

Die Nachrufseite gab es damals noch nicht lange, der erste Nachruf auf Ernst Müller entstand so, wie die meisten Nachrufe in Zeitungen entstehen: Es gab eine Agenturmeldung zum Tod des Mannes, der mit seiner Holocaust-Geschichte eine gewisse Prominenz erlangt hatte. Es fand sich ein längeres Porträt über ihn, das ein paar Jahre zuvor im Tagesspiegel erschienen war. Auf dessen Grundlage schrieb der Autor den Nachruf.

Kurz darauf meldete sich in der Redaktion ein Mann, der Ernst Müller kennengelernt hatte und von dessen krimineller Geschichte wusste. Er schrieb schließlich den zweiten Text, den Nachruf auf den Nachruf. Und er tat gar nicht so, als wüsste er etwas über die wahre Identität des Mannes, der so viele Namen hatte. Er zählte lediglich die bekannt gewordenen Fakten aus dem Leben eines Schwindlers auf.

So offensive Spiele mit der eigenen Biografie geschehen selten, entsprechend ausnahmehaft ist dieser Fall in der inzwischen fast 20-jährigen Chronik der Nachrufseite. Dennoch wirft er ein Licht auf die Risiken unseres Unterfangens – und auf die Chance, sich anhand der Nachrufe klar zu machen, wie wir alle die Erinnerung und unser Bild von der Welt konstruieren – und was das für uns als Journalisten, die der Wahrheit verpflichtet sind, bedeutet. Darüber nachzudenken, lohnt sich umso mehr, nachdem der Journalist Claas Relotius mit seinen zum Teil erdachten Reportagen im „Spiegel“ aufgeflogen ist und eine Debatte über die Grenzen des erzählerischen Journalismus aufkam.

Wie erfahren wir von den Toten?

Zunächst ein paar Worte darüber, wie die Nachrufe entstehen. Wir schreiben über Menschen aus Berlin, über die Zeitungen in aller Regel keine Nachrufe veröffentlichen, über deren Tod, anders als im Fall von Ernst Müller, keine Presseagentur eine Meldung herausgibt. Wie erfahren wir von ihnen? Am Anfang, als es die Seite noch nicht lange gab, gingen wir sämtliche Traueranzeigen durch. Wir riefen (und rufen zuweilen immer noch) Leute an, die unter den Namen der Verstorbenen stehen. Selbstverständlich erregen überraschende Anzeigen unsere Aufmerksamkeit, aber sehr wählerisch darf man da nicht sein, sonst könnte man so eine Seite mit Nachrufen nur alle paar Monate herausbringen.

Hin und wieder, leider viel zu selten, bekommen wir Tipps von Bestattern.

Und schließlich gibt es diesen kleinen Hinweis auf der Seite unten rechts, in dem wir die Leser um Hinweise bitten. Das geschieht inzwischen oft, aber es waren noch nie so viele, dass wir eine Auswahl hätten treffen müssen – über den Lehrer nicht, über die Herzchirurgin gerne. Ob ein Nachruf entsteht, hängt allein von der Bereitschaft der Angehörigen und Freunde ab, über den Gestorbenen zu erzählen. Dass er mal in Berlin gelebt haben muss, damit wir ihn „Berliner“ nennen können, und dass sein Tod nicht Jahre zurück liegen darf, versteht sich von selbst. Ein großer Vorteil unseres Unterfangens gegenüber dem normalen Nachrufgeschäft besteht immerhin darin, dass wir nicht so tun müssen, als ginge es nach dem Übergang in die Ewigkeit noch um eine Aktualität. Es dürfen seit dem Tod gern ein paar Monate vergangen sein, bevor wir uns ans Werk machen.

Die Gespräche mit den Hinterbliebenen sind ausführlich, in aller Regel dauern sie mehrere Stunden. Wenn man dann den Eindruck hat, noch mit anderen sprechen zu müssen, geschieht auch das. So kann sich die Recherche hinstrecken, in seltenen Fällen über Wochen. Professionelle Trauerredner sind da sehr viel schneller; für ihre tröstenden, zumeist recht formalisierten Worte bedarf es nicht dieser aufwändigen Suche nach der Geschichte.

Darum aber geht es uns. Die Geschichte statt der salbungsvollen Worte. Wir schreiben schließlich für ein Publikum, das die Gestorbenen nicht kannte. Es interessiert sich kaum dafür, ob Brigitte Schmidt eine gute Christin war, oder ob Horst Lehmann viel Humor hatte. Womit Frau Schmidts Christenglaube auf die Prüfung gestellt wurde, wie es kam, dass Herr Lehmann mal eine Familienfeier mit einem unpassenden Witz sprengte, das dürfte interessanter sein. Und: Es sagt wahrscheinlich auch viel mehr über Frau Schmidt und Herrn Lehmann.

Um es ganz deutlich zu machen – Geschichte heißt hier keinesfalls Erdachtes, geschönt passend Gemachtes. Damit ist lediglich die Schreibart gemeint: Erzählung statt Aufzählung, Episode statt bloßer Benennung. Selbstverständlich verbietet es sich, die Dinge hinzubiegen, Tatsächliches um der Erzählung willen zu verdrehen.

Über die Toten nur das Gute?

Allein, der Text bleibt ein Ausschnitt. Mehr kann er niemals sein. Je dichter er beschreibt, desto kleiner ist der Ausschnitt, desto verwegener der Anspruch, in diesem Zeitungstext ein Leben, eine Persönlichkeit ganz abzubilden. Selbst wenn man zehn solcher Geschichten erzählen könnte, bliebe es dabei: Vollständigkeit ist ausgeschlossen, der Anspruch, dass der Text jedem Verwandten und Bekannten des Verstorbenen genügt und gefällt, sowieso.

Gemessen daran, ist es erstaunlich, wie selten sich Menschen bei uns beschweren, dass bestimmte, ihnen wichtige Details in den Nachrufen fehlten, oder dass etwas nicht stimme.

Was aber darf überhaupt gesagt werden? Es gibt da dieses merkwürdige Gebot, dass über die Toten nur das Gute zu sagen sei. Warum eigentlich? Weil, wer tot ist, Engel ist und immer war? Ist es denn tröstlicher, zu behaupten, dass da jemand von uns gegangen ist, der ganz anders war als wir? Schlimm genug, dass die Beerdigung (neben Wahlkampf und Anglerbesäufnis) als jener Moment gilt, an dem am meisten gelogen wird. Soll das auch für den Nachruf gelten?

Dass ein Text, der Abwege nicht verschweigt, der interessantere ist, steht sowieso fest. Wenn der Autor es nicht bei der Beschreibung der Abwege belässt, sondern der Frage nachgeht, wie ein Mensch auf sie geriet, dann kann eine Geschichte entstehen, die über dieses eine Schicksal hinausweist. Und die zudem diesem Menschen und den sich an ihn Erinnernden weitaus gerechter wird, als jene, in der das vermeintlich Unsagbare unsagbar bleibt.

Eine Mutter wandte sich an uns, deren Sohn im Drogensumpf versunken war. Sie war sehr offen, sie erzählte über ihre Zweifel an sich, an ihm, über ihre Wut und ihre Trauer. In dem Nachruf ging es um Verfehlung und Verantwortung. Um eine Geschichte, die ganz ähnlich schon vielen Angehörigen von Drogenopfern widerfahren ist. Ein Text, der nur das Gute über diesen Toten berichtet hätte, hätte wenig berichtet. Dazu kommt: über das Schlechte, in dem Fall die Drogensucht, zu schreiben, heißt doch nicht, über einen Schlechten zu schreiben.

Ich schrieb mal einen Text über einen, über den ich eigentlich nichts Gutes erfahren hatte. Er war im Gefängnis am Herzinfarkt gestorben. Sein Kumpel, der gemeinsam mit ihm eingefahren war, hatte über ihn berichtet, sehr ausführlich auch über das Vergehen, wegen dessen sie saßen. Sie hatten Baumärkte ausgeraubt, bewaffnet. Und dann stellte sich noch heraus, dass der Gestorbene in den frühen 80ern für die Stasi Fluchthelfer in West-Berlin ausgespäht hatte. Es gab eine dicke Akte darüber. Gut verständlich, dass seine Witwe, die von der Stasisache, wie sie sagte, gar nichts wusste, mit der Veröffentlichung eines Nachrufes nicht einverstanden war. Sie lebte in einer gutbürgerlichen Gegend; die Nachbarn wussten nicht mal, dass der Mann im Knast gestorben war. Über den Text schrieb ich einen geänderten Namen – was wir sonst niemals tun. Die Begründung gehörte allerdings zur Geschichte.

Nichts über Erschießungen, Transporte, Wachdienste

Eine kleine, deutsche Empirie zum Thema: Es gab, soweit ich mich erinnern kann, bei uns bislang nicht einen Nachruf, in dem die Beteiligung eines Verstorbenen an NS-Verbrechen eine Rolle spielte. Verwundungen an der Front, Gefangenschaft, Traumata, das alles oft; nichts aber haben wir erfahren über Erschießungen, Transporte, Wachdienste. Das große Schweigen dauert an. Die Geschichten jüdischer Überlebender haben wir dagegen oft erzählen können. Bezüglich der jüngeren ostdeutschen Vergangenheit sieht es ein bisschen anders aus. Über Stasi-Spitzel konnten wir ähnlich oft schreiben wie über Stasi-Opfer.

Die Beispiele, Holocaust, Drogen, Stasi: alles heftige Sonderfälle. Der Grundgedanke der Nachrufeseite lautet aber: Der Alltag, das vermeintlich Normale, birgt genug Erzählstoff. In jedem Leben steckt etwas Besonderes; oft staunen wir, auf was für Unglaublichkeiten wir da stoßen. Man kann über jeden einen Nachruf schreiben, vorausgesetzt, es gibt Menschen, die bereit und imstande sind, das Erzählenswerte zu erzählen.

Wer sich mit jemandem, mit dem man etwas erlebt hat, nach Jahren über das Erlebnis unterhält, stellt schnell fest, wie unterschiedlich die Erinnerungen sind. Entsprechend unterschiedlich sind zuweilen die Informationen, die wir über ein und dieselbe Person erhalten. Entsprechend misstrauisch darf man gegenüber jeglicher Erzählung sein. Da könnte das Zwei-Quellen-Prinzip helfen: Eine Nachricht soll nur dann veröffentlicht werden, wenn sie von zwei unabhängigen Quellen bestätigt wurde. Ein hehrer Grundsatz, der in unserem Unterfangen wenig praktikabel ist. Jede Recherche würde zur Detektivarbeit und jeder Text zum knöchernen Bericht: „Wie aus Eintragungen des Geburtsregisters der Stadt Teltow, sowie aus den Erzählungen der hinterbliebenen Tochter Susanne S. hervorgeht, kam Friedhelm S. am 15. Januar 1936 in Teltow zu Welt.“

Soll heißen, bei unseren Nachrufen handelt es sich gewiss um ein journalistisches Genre, wenn auch um ein ausgesprochen seltenes. Berichte, die den klassischen Regeln folgen, sind es aber nicht, können es gar nicht sein. Anders als ein Reporter waren wir nie dabei. Unsere Quellen sind die Angehörigen, deren Erinnerungen so zuverlässig sind, wie die Ihren und die meinen. Dazu kommt der Wille und die Notwendigkeit, einen Nachruf erzählerisch zu gestalten, viele Dinge also wegzulassen, Dinge, die dem einen wichtiger erscheinen mögen als der anderen. Natürlich steht im Nachruf über Friedhelm Schmidt nicht die ganze Wahrheit über Friedhelm Schmidt. Da steht eine Wahrheit, im Text eines anderen Autors, der mit anderen Leuten gesprochen hätte, stünde eine andere.

Todesseite?

Das mag binsenwahr klingen, erscheint aber angesichts der Debatten nach dem „Fall Relotius“ alles andere als selbstverständlich. Dass es verboten ist, sich Dinge auszudenken, war und ist ohnehin klar. Aber es geriet auf einmal das ganze Stilmittel des erzählerischen Reportierens in ein Zwielicht. Wer das anzweifelt, dürfte an unserer Form der Nachrufe erst recht verzweifeln. Wenn er aber glaubt, ein Leben nicht-erzählend vollständiger, wahrer, interessanter zu spiegeln, dann dürfte er sich irren. Dann allerdings betonen die Verteidiger der Reportage, „die Wahrheit“ ließe sich durch sauberes Arbeiten aufdecken, erzählen. Eine Wahrheit ja, die Wahrheit, die ungeteilte, vollständige, bestimmt nicht. Aber das kann auch kein noch so nüchterner Bericht.

Zum Schluss, wie sich das gehört, ein paar Worte zum Tod. „Todesseite“ wurden die Nachrufe irrtümlich genannt oder auch „Trauerseite“. Die schönen Fotos von den Friedhöfen mögen zu diesem Eindruck beigetragen haben. Nach 20 Jahren und etwa 1000 Friedhofsfotos werden wir die Illustration unserer Seite jetzt erneuern. Anstatt der Totenerde werden wir den Himmel über der Stadt abbilden. Nicht als den Ort, an dem wir die Toten oder ihre Seelen vermuten, sondern als das sich ständig Wandelnde, Schöne, das über uns ist und bleibt.

Dass wir uns in den Texten viel mehr dem bunten Leben nähern als dem schwarzen Tod, dürfte deutlich geworden sein. Wir wissen natürlich, dass sich viele Leser für die Todesumstände interessieren. Vielleicht spendet es ja Trost, zu erfahren, was anderen alles passieren kann. Magisches Denken: Was da geschehen ist, geschieht so schnell nicht hier. Wir haben oft darüber diskutiert, ob der Tod und seine Ursache in jeden Nachruf reingehören. Und haben uns entschieden, dass dasselbe wie fürs Leben gelten soll: Wenn es der Erzählung dient, erzählen wir’s.

Und schließlich, über den Tod und das Danach wissen wir doch auch nicht mehr, außer dass das alles eine Unverschämtheit ist, eine Zumutung. Gegen die nur zweierlei hilft: Erinnern und Erzählen.

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