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Dagmar Hartung von Doetinchem de Rande

© privat

Nachruf auf Dagmar Hartung von Doetinchem de Rande: Die „Gräfin“

Sie wohnte in den Kommunen 1 und 2, wollte als Lehrerin die Revolution in die nächste Generation tragen - und wurde Hebamme. Der Nachruf auf eine große Frau

Verlor ihre Tochter sie mal im Kaufhaus aus den Augen, war das kein Problem. Niemand sonst schritt so gerade, hoch erhobenen Hauptes zwischen den Regalen. Im Freundeskreis wurde sie „die Gräfin“ genannt: der Kleidungsstil ladylike, eine große Frau, gleichermaßen streitlustig wie verletzbar. Mit voller Hingabe zu lieben, fiel ihr nie schwer; der Gedanke, dass sie selbst ebenso zurückgeliebt würde, schon.

Wie so vielen ihrer Generation hat es dem Nachkriegskind Dagmar an Nestwärme gefehlt. Die Mutter hatte schon drei Söhne, als ihr Mann, ein U-Boot-Kapitän, im Zweiten Weltkrieg ums Leben kam. Sie kehrte zurück zu ihrem früheren Geliebten auf ein Gut in Pommern, floh vor den Russen. Dagmar kam zur Welt, acht Jahre später noch ein Sohn. Die großen Brüder sahen in ihr das Schätzchen des Stiefvaters, der Dagmar, anders als die Jungen, nicht schlug. Als die Ehe zerbrach, war die Mutter mit den fünf Kindern allein. Ein Kindermädchen gibt es zwar, genug Liebe und Geborgenheit aber nicht.

Dagmar zieht nach dem Schulabschluss nach Berlin, hinaus aus der Enge und dem Nachkriegsmief. Sie studiert Grafik an der HdK, besucht ihre erste SDS-Sitzung. Sie hat sich dafür schick gemacht im blauen Kostüm. Die Männer diskutieren, die Frauen hören zu und räumen hinterher auf. Aber Dagmars politische Kampfeslust erwacht. Ihr erster Freund, der Schriftsteller Ulrich Enzensberger, ist Mitbegründer der Kommune 1, auch Dagmar zieht dort ein und dann weiter in die Kommune 2. Später wird Dagmar die Alphatiere und Provokateure als das beschreiben, was sie eben auch waren: eitle Gockel.

Das Berufsverbot macht einen Plan zunichte

Es gibt kaum eine revolutionäre Bewegung, die sie nicht aktivistisch und intellektuell begleitet, die Tage sind ausgefüllt: Teach-ins, Demonstrationen, Engagement für die Rote Hilfe. Silvester 1969 lernt sie Klaus Hartung kennen, bewunderter Intellektueller im SDS. Die beiden werden zum revolutionären Glamour-Paar. 1974 kommt das Wunschkind Lisa zur Welt. Dagmar fordert gleichberechtigte Elternschaft. Klaus aber hat Wichtigeres zu tun, als sich um ein Kleinkind zu kümmern. Dass er sie, Dagmar, lieben würde, hat sie nie so wirklich glauben können. Der Traum von Geborgenheit und heiler Familie ist vollends dahin, als Klaus sich in eine andere Frau verliebt.

Dagmar will Lehrerin werden, um die Revolution in die nächste Generation zu tragen. Das Berufsverbot macht den Plan zunichte. Sie beschließt, Hebamme zu werden. Während der Ausbildung tobt so mancher Dozent, wenn Dagmar und ihre Mitstreiterinnen mit Frauenzeichen und in lila Röcken erscheinen und scheinbar Selbstverständliches infrage stellen. Das Urvertrauen, das ihr selbst manchmal fehlt, will Dagmar den Frauen vermitteln. Damals finden so gut wie alle Geburten in Deutschland stationär im Krankenhaus statt. Dagmar gründet das erste Hebammenkollektiv Berlins, etabliert die ambulante Geburt und begleitet Hausgeburten.

1979 reist sie mit der fünfjährigen Lisa nach Indien, erst mal im Transitbus nach Schönefeld, dann weiter nach Goa. Dort lernt Dagmar Steve kennen und verliebt sich in seinen britischen Humor. Er folgt ihr nach Berlin. 1982 kommt Tim auf die Welt. Tim ist von Geburt an schwer krank. Er behält kaum Nahrung bei sich und zeigt autistische Züge. Dagmar weigert sich, anzuerkennen, dass Tim behindert ist. Erst Jahre später bringt eine genetische Untersuchung Gewissheit: Tim hat eine Erbkrankheit, die „Fragiles-X-Syndrom“ genannt wird. Dagmar kämpft für Tim, vor Gericht erreicht sie, dass er bis zum Abschluss eine Regelschule besuchen kann. Inklusion ist da noch ein Fremdwort. Die Beziehung zu Steve zerbricht unter der jahrelangen emotionalen Belastung.

„Wenn wir zu zweit sind, ist er für mich normal“, sagt Dagmar über Tim. Mit ihm kann sie wunderbare Gespräche führen. Er hat ein enormes Faible für Fahrzeuge aller Art. Wenn sie mit dem erwachsenen Tim auf die U-Bahn wartet und diese einfährt, dann beginnt er vor Begeisterung zu zappeln. Für Dagmar ist das schwer zu ertragen: Sie weiß, wie das auf andere wirkt; sie sieht die abwertenden Blicke. Und sie setzt sich zur Wehr: „Können Sie mal aufhören, so zu starren?“

Holocaustaufarbeitung fürs Kind

Als Tim wenige Jahre alt ist, schließt Dagmar sich einer Initiative an, die ein ehemals besetztes Haus in der Kreuzberger Admiralstraße kauft und sanieren will. Der Senat fördert solche Projekte, um abrissreife Häuser zu erhalten. Das Haus gleicht eher einer Ruine. Und Dagmar, Mutter eines ausgesprochen bedürftigen Kleinkinds, Hebamme in ständiger Rufbereitschaft, wird nun auch Bauarbeiterin.

Dass die Achtundsechziger sich weit weniger für die deutsche Vergangenheit, Holocaust und Drittes Reich interessieren als für Revolutionen, die Tausende Kilometer entfernt stattfinden, treibt Dagmar um. Umso tiefer begibt sie sich in die Geschichte des Nationalsozialismus. Ihre Tochter kann die ganzen Bücher und Filme irgendwann nicht mehr sehen. Jedes Jahr zum Geburtstag und zu Weihnachten eine altersgerechte Holocaustaufarbeitung fürs Kind. Dagmar veröffentlicht 1989 das Buch „Zerstörte Fortschritte“ über das Jüdische Krankenhaus in Berlin. Sie fliegt nach New York und Israel, um Interviews mit Überlebenden zu führen.

Anfang 2021 wird bei ihr ein seltener Tumor an der Speiseröhre entdeckt. „Man reißt sich zusammen“, hieß es in ihrer Kindheit. Das tut sie jetzt auch. „Ach, ich will nicht rumjammern“, sagt sie, wenn es allen Grund zum Jammern gibt. Als ihr klar wird, dass ihr Leben abhängig sein wird von Ärzten und immer neuen Therapieversuchen, schwindet ihr Lebenswille. Sie geht friedlich, als ihre Tochter auf der Palliativstation neben ihr am Bett sitzt und zeichnet.

Auf dem Friedhof in der Bergmannstraße liegen schon Steve und ihr Bruder Knut. Um ihn hat sie sich jahrelang gekümmert, als er, psychisch krank, in Berlin auf der Straße lebte. Nun ist sie zu den beiden in ihre letzte WG gezogen.

[Wir schreiben regelmäßig über nicht-prominente Berliner, die in jüngster Zeit verstorben sind. Wenn Sie vom Ableben eines Menschen erfahren, über den wir einen Nachruf schreiben sollten, melden Sie sich bitte bei uns: nachrufe@tagesspiegel.de. Wie die Nachrufe entstehen, erfahren Sie hier.]

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