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Birgit Rettner

© privat

Nachruf auf Birgit Rettner: Keine Riesenwünsche, keine Traumgespinste

Ein erfülltes Leben, Arbeit, Ehe, Kinder. Aber es Leerstellen, die auszufüllen waren. Der Nachruf auf eine, die ihren Wünschen nachging

Birgit steht auf, geht ein wenig spazieren, kauft rasch ein, läuft dann zurück nach Hause. Alle sollen nur für das Nötigste raus. Zu Hause telefoniert sie ein bisschen. Mit ihrer älteren Tochter in Nürnberg, mit ihrer jüngeren in Schleswig-Holstein, mit ihrer Schwester.

Birgit lebt allein, seit Kurzem erst, vor einem Jahr ist ihr zweiter Mann gestorben.

Sie setzt sich erneut ans Telefon. Das Gesundheitsamt hat eine Initiative gestartet, einen Anrufdienst für Einsame in der Zeit der Pandemie. Birgit, studierte Psychologin, macht mit. Für ein paar Stunden hört sie traurigen Menschen zu. Nach dem letzten Telefonat steht sie auf, geht zu ihrem Klavier, klappt den Deckel auf, richtet die Noten der Bachkantate, beginnt zu spielen und zu singen. Sie liebt das Singen. Summt immerzu Melodien. In all ihren Tagen ist Musik.

Ein Nachbar im Haus, ein junger Mann, Chorleiter, übt häufig. Der Klang seines Klaviers fällt leicht gedämpft in Birgits Wohnung. Einmal übt er eine Bachkantate und bricht unvermittelt, mitten im Stück, ab. Dann ist es still. Als Birgit ihm kurz darauf im Treppenhaus begegnet, sagt sie: „Das ist schrecklich. Warum machen Sie das?“

Musik ist immer da gewesen, an all ihren Tagen, von Kindheit an. Damals, in Güstrow, sang sie selbst aber noch nicht. Die Stimme ihrer Schwester galt als die hübschere. Birgit begleitete sie an Klavier und Geige. Jeder in der Familie beherrschte mindestens ein Instrument. Es war ein behütetes, bürgerliches Leben, in einer Gründerzeitwohnung mit Blick auf das Renaissanceschloss und den Schlossgarten. Die Arztpraxis des Vaters befand sich in der Wohnung. Und wenn der Vater durch die Stadt lief, grüßten die Leute: „Einen schönen Guten Tag, Herr Dr. Besse.“ An Weihnachten musizierten alle zusammen, „Tochter Zion, freue dich“, „Maria durch ein Dornwald ging“, das ganze Repertoire.

Sie las, was sie kriegen konnte

Man setzte sich zu fünft, die Eltern, die drei Kinder, eine Wagneroper wurde aufgelegt, die Kinder hatten mucksmäuschenstill zu sein, und hörte das Werk bis zum letzten Ton. An den Wochenenden fuhren sie hinaus, besuchten Kirchen, Museen, Klöster, schauten sich die Heiligenbilder an, gingen durch Kreuzgänge und folgten den Erklärungen zu Epoche und Stil.

Die Mutter, die den Vater in der Praxis unterstützte, leitete einen privaten Kunstkreis, und während die geladenen Damen über Klimt oder das Bauhaus sprachen, lauschte Birgit aus dem Nebenzimmer. Sie las, was sie kriegen konnte, Tolstoi, Dostojewski, Fontane. Las in ungeheurer Geschwindigkeit. Blieb mit ihren Büchern öfter zu Hause als ihre Geschwister, dachte über die großen Fragen nach, den Sinn der Existenz, die Wahrheit in der Welt.

Nach dem Abitur beschloss sie, würde sie Psychologie studieren. Aber in der DDR sollten mehr Kinder aus der Arbeiterklasse an die Universität als Bürgerkinder. Also machte Birgit zunächst eine Buchhändlerlehre und bewarb sich danach erneut. Erst durch die Beziehungen des Vaters klappte es. In Dresden studierte sie Arbeitspsychologie.

Sie lernte Winfried, einen Bauingenieursstudenten und Jazzfan, kennen, heiratete ihn, zog nach Berlin, bekam zwei Töchter, begann am Institut für Arbeitspsychologie zu arbeiten, was ihr ungemein öde vorkam. Sie wechselte in die medizinische Psychologie, betreute Menschen mit geistiger Behinderung in Reha-Werkstätten. Diese Tätigkeit mochte sie, sah jedoch, dass es den Patienten an Selbstbestimmung fehlte. Und wagte es, ein Heim, das deren Bedürfnisse besser berücksichtigte, aufzubauen.

Dann kam die Wende. Und mit ihr all die neuen Möglichkeiten. Birgit gründete mit anderen „Das fünfte Rad“, eine Betreuungsstelle für geistig behinderte und psychisch erkrankte Menschen.

Und Birgit selbst? Sie hatte keineswegs fremdbestimmt gelebt, doch gab es Wünsche, die sie nicht mehr auf die lange Bank schieben, die sie sich jetzt, mit 50, endlich erfüllen wollte. Keine Riesenwünsche, keine Traumgespinste. Umsetzbare Ideen, die zu lange stumm in ihrem Kopf gewartet hatten: Sie begann, Jahrzehnte nach den Weihnachtsabenden in Güstrow, selbst zu singen. Bewarb sich zuerst beim Chor „Sing! Sing!“. „Wissen Sie nicht, dass das hier ein Jugendchor ist?“, fragte dessen Leiter verdutzt. Und nahm sie dann doch auf. Sie ließ sich von Winfried scheiden, die Töchter waren ja aus dem Haus. Der nächste Wunsch: in einem zwölfstimmigen Chor mitmachen. Sie setzte eine Anzeige in die Zeitung: „Wer möchte mitsingen?“, und etliche Leute meldeten sich. Das nächste Vorhaben: Mit ihrem Nachbarn, dem jungen Chorleiter, der die Bachkantate abgebrochen hatte, ein Ensemble gründen. Wieder schaltete sie eine Anzeige: „Wer in unserem Pop- und Rockchor mitsingen möchte, muss über 60 sein.“ 40 Leute schrieben zurück, auch nicht gerade hochbegabte Vokalisten, aber das war egal, Schwung und Begeisterung waren die Kriterien. Der Chor „High fossility“ entstand.

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weitere Texte der Autorin, Tatjana Wulfert, lesen Sie hier]

Inzwischen hatte Birgit Wolfgang, einen Architekten kennen gelernt. Sie zogen in den Schillerkiez nach Neukölln, sie arbeiteten jedes Jahr Anfang November beim Kunstfestival „Nachtundnebel“ mit, wenn sich die Kunstszene in Kellern, Galerien und Ateliers zeigte. 2019 starb Wolfgang. 2021 kuratierte Birgit eine Ausstellung in der Genezareth-Kirche zu der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs. 1941 waren in der so genannten „Nacht-und-Nebel-Aktion“ 7000 des Widerstands verdächtige Menschen aus halb Europa nach Deutschland verschleppt worden, wurden verurteilt und blieben selbst bei erwiesener Unschuld in den Gefängnissen. „Man muss auch über das Schlimme sprechen“, fand Birgit.

Sie war jetzt allein. Und hatte noch Wünsche. Einmal nach Basel, den „Tinguely-Brunnen“ sehen, die beweglichen Skulpturen, die Wasserspiele. Sie fuhr los, ihr kleines rotes E-Bike hinten im Wagen. Nach der Ankunft schnell das Gepäck ins Hotel, dann eine erste Runde auf dem Rad. Auf dem Rückweg geriet sie in die Schienen der Tram und stürzte. Ob sie den Brunnen gesehen hat? Alle stellen es sich vor.

[Wir schreiben regelmäßig über nicht-prominente Berliner, die in jüngster Zeit verstorben sind. Wenn Sie vom Ableben eines Menschen erfahren, über den wir einen Nachruf schreiben sollten, melden Sie sich bitte bei uns: nachrufe@tagesspiegel.de. Wie die Nachrufe entstehen, erfahren Sie hier.]

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