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Ann Dora Nielsen

© Isabel Schroer

Nachruf auf Ann Dora Nielsen: Die schöne Linie

Auch im Winter ging sie im Sommerkleid auf die Straße: Was konnte dieses liebste Stück dafür, wenn das Wetter nicht dazu passte?

Eine Linie kann vieles sein. Als Strecke markiert sie die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten. Als Gerade ist sie unendlich lang, in beide Richtungen unbegrenzt. Das Leben ähnelt, nüchtern betrachtet, einer Strecke. Geburt, Tod, dazwischen ein mehr oder weniger geradliniges Stück Weg. Für Ann Dora Nielsen war es eher eine Mischung aus beidem: Ein Ende war nicht vorgesehen. Als es unvermeidlich wurde, gestaltete sie diesen letzten Punkt ihrer Lebenslinie selbst. So, wie sie es immer getan hatte.

„Die schöne Linie“, wie sie es nannte, zog sich als Motiv durch ihr Leben. Mit einem ausgeprägten Sinn für Ästhetik arrangierte sie sie bis zur Perfektion. Sie buk beharrlich, bis das perfekte Körnerbrot entstand, belegte es mit dem besten dänischen Käse und verschnürte es, farblich hübsch abgestimmt, im schönsten Stullenpapier. Als Gewandmeisterin näherte sie sich der perfekten Silhouette beständig, übersäte ihre Schnitte erst mit Bleistiftstrichen, korrigierte dann mit Kugelschreiber, ging nochmal mit verschiedenen Buntstiften drüber. In dem Farbgewirr erkannte sie die schönste aller Kurven, folgte den Linien des Körpers, den der Stoff später perfekt fallend umhüllen sollte, und setzte schließlich die Schere an, einem innerlichen Kompass folgend.

Diesen Kompass hatte sie sich früh schon zugelegt. Als Kind war Ann Dora eine auffällige Erscheinung. Groß gewachsen, mit rotblondem, lockigem Haar, ein Scheidungskind. Andere Kinder in der Kopenhagener Wohnsiedlung hänselten sie. Auch im Winter ging sie im Sommerkleid auf die Straße: Was konnte dieses liebste Stück dafür, wenn das Wetter nicht dazu passte?

Als sie mit zwölf eine Nachbarin beim Kostümeschneidern beobachtete, stand ihr Lebensplan fest. Die Schule schmiss sie mit 16, zog aus von zu Hause und ging bei einer Gewandmeisterin in der Innenstadt in die Lehre, die Kostüme für die Königliche Oper und das Ballett schneiderte. Ihre erste Aufgabe: wochenlanges Stecknadelputzen.

Diese Arbeit ersparte Ann Dora ihrer eigenen Auszubildenden, die ein paar Jahrzehnte später an ihr Atelier in Berlin klopfte. Streng war sie dennoch. Und beharrlich, nichts entging ihr. Zweifelte ihre Schülerin, ob sie den Stoff gerade richtig zusammensteckte, fragte Ann Dora von der anderen Seite des Raumes: Steckst du die Nadeln auch in die richtige Richtung? Streifte sie unauffällig ihren Fingerhut ab, weil er nervte, rief Ann Dora: Hey, dein Fingerhut! Ob man es glauben will oder nicht, am Ende werden die Stiche mit Fingerhut gleichmäßiger.

Mit ihrer Meisterin verband die junge Ann Dora ein symbiotisches Verhältnis. Zusammen zogen die beiden Frauen in den 80ern ins kalifornische Hauptquartier einer spirituellen Gruppe. Dort lebte auch Johannes. Während die meisten annahmen, Ann Dora, von ihrer Meisterin kaum aus den Augen gelassen, sei nicht zu haben, wusste er es besser. Nach drei kurzen Gesprächen und keinerlei Körperkontakt, machte er ihr völlig verknallt einen Heiratsantrag. Ann Dora fiel aus allen Wolken, sah ihn, vielleicht zum ersten Mal, sehr, sehr gründlich an und sagte: Ja, lass uns das machen.

Es folgten 33 Jahre Lebensliebe, zwei Söhne. Schnell entflohen sie dem kibbuzartigen Gruppenquartier, lebten mal in New York, mal in Hamburg, mal in Sausalito. Die sieben Jahre auf dem dänischen Land genoss Ann Dora besonders, völlig dänemarkuntypisch widmete sie sich einzig der Familie, schneiderte ihren Jungs zum Fasching Kostüme als Pikachu oder Lego-Cowboy. Später, in Berlin, fasste sie schließlich beruflich Fuß.

Einen Meisterbrief besaß sie nicht. Dafür hätte sie nach ihrer siebenjährigen Lehre einen Tag für eine Prüfung opfern müssen. Ein Punkt, den sie auf ihrer Lebenslinie aussparte. Die Kunden kamen auch so. Sie beherrschte einige alte Handwerke wie Korsette oder Hüte bauen. Sie stellte Filmkostüme für Jeremy Irons und Emma Watson her, stattete Märchenfilme und große Fernsehproduktionen aus, „Unsere Mütter, unsere Väter“, „Adlon“. Das Kostüm, das sie der Solotänzerin der Friedrichsstadtpalast-Revue auf den Leib schneiderte, zierte 2008 Bushaltestellen in ganz Berlin. Ihre letzte Produktion, die Serie „Der Palast“, wurde einen Tag vor ihrem Tod ausgestrahlt. Ansehen wollte sie sich das nicht, wie sie überhaupt wenig Interesse am ganzen Chichi um ihre Arbeit hegte. Das Schneidern war ihre Leidenschaft.

Im Bad der Familie stand eine große Kiste mit mehr als 20 Zahnbürsten – für alle Freunde der Jungs. Manchmal lebten auch andere Kinder mit im Haus, für Monate, Kinder, die bei ihren eigenen Eltern gerade nicht leben konnten. Warum, war unwichtig, Hauptsache, dem Kind ging es gut.

Als klar wurde, dass ihr Krebs nicht mehr zu heilen war, begann ihre bis dahin selbstgezogene Linie auszuschlagen, verband Schock, Trauer, Wut und Angst mit Liebe und plötzlichen, überwältigenden Glücksgefühlen zu einer wilden Kurve. Ich empfinde so viel Liebe, dass es kaum auszuhalten ist, sagte sie neun Monate vor ihrem Tod. Und: Wenn ich zurückblicke, würde ich alles genauso machen. Als sie nicht mehr leugnen konnte, dass das Leben keine Kurve ist und keine Gerade, sondern eine Strecke, entschloss sie sich zur radikalen Akzeptanz. Dass sie sich jahrelang mit Spiritualität und Selbstentwicklung beschäftigt hatte, half ihr dabei. Sie fand einen inneren Frieden, der sich auf alle um sie herum legte. Die Pfleger im Hospiz suchten geradezu ihre Gesellschaft nach einem chaotischen Tag, und egal wie es ihr ging: Freunde fragte sie zuerst, wie geht’s dir, was machen die Kinder? Wenn sie traurig wurden, sagte sie: Hej, ich bin Dänin, wir können über den Tod auch lachen.

Sehnsucht nach Dänemark bekam sie, träumte von Smørrebrød und Hindbærsnitter. Der Arzt sagte, eine Reise ist in so einer Palliativpflege nicht vorgesehen, professionell muss ich Ihnen davon abraten. Aber ich an Ihrer Stelle würde es machen. Für eine Woche ging es ihr wunderbar, sie ging aufrecht, nicht mehr schmerzgekrümmt, empfand die Überfahrt mit der Fähre geradezu als symbolisch.

Als ihr Mann im Krankenhaus die Fassung verlor, weil sie dem fragenden Arzt antwortete, es gehe ihr gut, sagt sie: „Den Arzt mag ich nicht, ich warte auf den anderen.“ Dann setzte sie ihren letzten Punkt, gestaltete den schwierigsten Akt ihres Lebens: Johannes, ich möchte jetzt gehen.

[Wir schreiben regelmäßig über nicht-prominente Berliner, die in jüngster Zeit verstorben sind. Wenn Sie vom Ableben eines Menschen erfahren, über den wir einen Nachruf schreiben sollten, melden Sie sich bitte bei uns: nachrufe@tagesspiegel.de. Wie die Nachrufe entstehen, erfahren Sie hier.]

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