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Hans Simon

© Robert-Havemann-Gesellschaft/Frank Ebert

Nachruf auf Hans Simon: Gefährder in den Kellerräumen

Wenn er mit dem Moped über die Dörfer raste, wehte sein Talar im Wind. Als er nach Berlin kam, geriet er zwischen die Fronten. Nachruf auf einen Mann mit Mut.

Von David Ensikat

Vier Jahre vor dem Ende der DDR suchte eine Gruppe junger Männer mit unordentlichen Frisuren und unordentlichen Gedanken nach einem Ort für ihre ordnungsgefährdenden Aktivitäten. Kirchenräume sollten es sein, denn die Kirche bot einen gewissen Schutz vor der Staatsmacht. Die Erfahrung besagte jedoch, dass sich auch die Kirche nicht allzu gern mit der Staatsmacht anlegte. Dann muss man sie halt dazu zwingen, ganz demokratisch, dachten sich die jungen Leute und fassten den Plan, einen Gemeindekirchenrat zu unterwandern. Hatte man einmal die Mehrheit in einem solchen, sollte es leichtfallen, sich ein paar Gemeinderäume anzueignen, mehr wollten sie ja gar nicht.

Die Zionskirche in Berlin-Mitte! Die Lage war gut, die Gemeinde galt als instabil, der Pfarrer war noch nicht lange im Amt. Der Pfarrer, Hans Simon, begrüßte die Umstürzler mit einer ganz und gar unerwarteten Offenheit: Willkommen in unserem Kirchenrat! Aber wie wäre es erstmal mit ein paar Räumen? In meinem Keller ist noch Platz.

Es heißt, die Idee mit den Kellerräumen habe Barbara Simon gehabt, Hans Simons Ehefrau. Das ist gut möglich, sie spielte überhaupt eine große Rolle in seinem Leben. In Nachrufen auf ihn ist die Rede von einem mutigen Mann, der anderen Mut machte. Er selbst betonte, dass er ohne seine Frau Kraft und Mut kaum aufgebracht hätte.

Mit 16 haben sich die beiden in der Jungen Gemeinde eines thüringischen Kaffs kennen gelernt. Außerdem besuchten sie dasselbe Internat. Barbara kam aus einer Familie mit langer Pfarrtradition. Hans war allein, der Vater im Krieg verschollen, die Mutter, eine fromme Frau, die mit ihm sowohl gebetet als auch in der Küche getanzt hatte, war gestorben, als Hans zwölf war. Sein großer Bruder lebte in West-Berlin. Und dann ließ Hans an der Schule auch noch alle wissen, dass er das Himmelreich eher im Himmel verortete als auf Erden, dass er mithin für die sozialistischen Gemeinschaftswerke nicht zur Verfügung stand. Das Lehrerkollegium war sich einig: Der Falschgläubige muss unsere Schule verlassen. Auf den Rückhalt seiner Mitschüler konnte er nicht hoffen; umso wichtiger, dass wenigstens dieses eine Mädchen, Barbara, zu ihm stand.

Er war der Mann, sie die Frau

Sein Abitur konnte Hans Simon nur noch an einer kirchlichen Einrichtung ablegen, am Oberseminar auf der Potsdamer Halbinsel Hermannswerder. Wie frei er dort auf einmal war! Es standen ihm danach allerdings nur noch zwei Laufbahnen offen: als Pfarrer oder Kirchenmusiker. Obgleich ihm Paul Gerhard und Johann Sebastian Bach ähnlich nah waren wie Chuck Berry und Elvis Presley, entschied er sich für die Pastorenvariante.

Er studierte Theologie am Ost-Berliner Sprachenkonvikt und an der Kirchlichen Hochschule in Berlin-Zehlendorf, während Barbara dasselbe tat, an der Humboldt-Universität. Die beiden bestanden das erste Examen; dass danach er ins Vikariat ging und Pfarrer wurde und nicht sie, verstand sich von selbst damals, er war der Mann, sie die Frau.

Die Kirche schickte ihn nach Göllingen, ein Dorf in der Nähe des Kyffhäusers. Als Vikar übernahm er sofort die Pfarrstelle, der Bischof genehmigte die Hochzeit, Barbara wurde Pfarrfrau, erfüllte sämtliche damit verbundenen Pflichten, Christenlehre, Chor, Gemeindekreise, gebar und erzog die drei Kinder und erledigte den Haushalt. Während der Jungpfarrer sich alle Mühe gab, den eher schlichten Gemütern seiner ländlichen Gemeinde gerecht zu werden. Da konnte er nicht in jeder Predigt seine volle exegetische Expertise zur Schau stellen, geschweige denn sein Interesse an der Psychoanalyse. Barbara fand auch, es dürfe gern ein wenig mehr Evangelium und etwas weniger Traumdeutung sein. Wenn er dann witzelte, in dem alten Kirchenlied heiße es doch: „Geh aus und suche Freud“, lächelte sie gnädig. Und mahnte, dass es nicht der Würde seines Amtes entsprach, wenn er auf dem Moped seinen Talar anbehielt, der wild im Fahrtwind wehte. War doch Pastor und kein Zorro. Aber zum monatlichen Schwof in der Göllinger Dorfkneipe begleitete sie ihn gern, und das Dorf bestaunte das schmucke junge Tanzpaar.

Wenn Pfarrerskinder in der DDR-Schule die Systemfrage, „Bist du dafür oder dagegen?“, zu beantworten hatten, welche zunächst etwas anders formuliert wurde: „Möchtest du auch so ein schönes Pionierhalstuch tragen wie alle anderen?“, gerieten sie in Schwierigkeiten. Welches Kind will schon dagegen sein, welches will kein Halstuch wie alle anderen tragen? Viele Pfarrer machten es ihren Kindern leicht und verboten ihnen kurzerhand den Kokolores. Hans und Barbara Simon, beeindruckt von den westlich-dekadenten Ideen der antiautoritären Erziehung, stellten es ihren Kindern frei – Entscheidet selbst! –, ließen aber keinen Zweifel daran, dass sie den Kokolores von Herzen ablehnten. Hatten schließlich ihre Erfahrungen damit gemacht. Die Kinder banden sich die Halstücher um, mit schlechtem Gewissen.

Aber sie lernten, frei zu sein in ihren Entscheidungen. Darum ging es Hans Simon auch in seiner Arbeit. Besonders die jüngeren Gemeindemitglieder waren beeindruckt von ihm. Entscheide selbst! – das war nicht gerade die landestypische Maxime für heranwachsende DDR-Bürger. Entsprechend groß war der Argwohn der staatlichen Stellen, die den Pfarrer immer wieder ermahnten, seinen Einfluss auf die alten und frommen, ohnehin verlorenen Seelen zu begrenzen.

Strategie und Instanzenkunde

Nach zwölf Jahren auf dem thüringischen Land erhielt er eine neue Stelle auf dem brandenburgischen Land. Die war besser, weil das Pfarrhaus sich einigermaßen beheizen ließ, und weil er nicht mehr mit dem Moped, sondern mit dem Diensttrabant über die Dörfer fahren konnte (selbst das war ein Wagnis, denn seine Augen blickten in irritierend unterschiedliche Richtungen; da lassen sich Entfernungen nur mit großem Gottvertrauen abschätzen).

Als Hans Simon nach weiteren zehn Jahren las, dass die Berliner Zionskirche einen Pfarrer suchte, bewarb er sich. Womöglich würde er dort ein paar anspruchsvollere Gedanken in seinen Predigten unterbringen können. Wie sollte er ahnen, dass an der neuen Stelle bald eine Zusatzqualifikation gefragt sein würde, die auch die besten Prediger nur selten aufbringen: Strategie und Instanzenkunde. Zwei Jahre nach seinem Dienstantritt eröffneten die jungen Oppositionellen ihre Lagerstatt im Keller seines Pfarrhauses, nannten sie „Umweltbibliothek“ und wussten, dass die Staatsmacht wusste, dass es ihnen um weit mehr als saubere Luft und grüne Wälder ging, und dass die Schriften, die sie auf ihren Druckmaschinen vervielfältigten, durchaus nicht nur „für den innerkirchlichen Dienstgebrauch“ bestimmt waren. Die Floskel druckten sie oben drüber, um die staatliche Zensur zu umgehen.

Dass es innerkirchliche Debatten gab, ob der Pfarrer die Staatsgefährder in seinen Kellerräumen dulden durfte, ist ja klar. All die kleinen Freiräume, die die Christen den Kommunisten über Jahre abgerungen hatten, setzte er die nicht aufs Spiel? Und waren diese Kellermenschen überhaupt Christen? In ihren Pamphleten fanden sich sehr wenige Bibelzitate. Besorgte Mitglieder der Zionsgemeinde fragten ihren Pfarrer, warum er das Risiko eingehe, er wisse doch ganz genau, dass in dem Bauwagen gegenüber dem Pfarrhaus keine Bauarbeiter, sondern die Genossen von der Staatssicherheit froren. Hans Simon verwies auf die christlich deutbaren Motive seiner Untermieter: Schützt nicht, wer die Umwelt schützt, Gottes Schöpfung? Nimmt nicht, wer den Kriegsdienst ablehnt, die Bergpredigt tatsächlich ernst?

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Als im November 1987 einige der Umweltbibliothekare festgenommen wurden, unterstützte er die Proteste. Als sie nach kurzer Zeit freikamen, nahm er sie wieder bei sich auf. Wenn ein Vertreter der Kirchenleitung ihn darum bat, er möge die jungen Leute ein wenig zügeln, ein Vertreter der Staatsmacht habe Druck gemacht, dann ließ er ausrichten, er stünde zu konstruktiven Gesprächen zur Verfügung. Die gab’s dann nicht, denn die Staatsmächtigen führten ihre Gespräche doch nicht auf so niedriger Ebene.

Als die Diktatur in sich zusammenbrach und viele Kollegen von Hans Simon sich an runde Tische und in neue Parteigremien setzten, überlegte er, ob er es ihnen gleichtun sollte. Anfragen gab es. Da sprach Barbara, seine Frau und Stimme der Vernunft: Mach das, aber ohne mich! Da er ohne sie nichts machte, machte er es nicht.

So kam es, dass dieser Protagonist des Umbruchs nie als einer seiner großen Helden galt. Was ihm ganz recht war, denn was ist das schon, ein Held? Gute Prediger gibt es nicht viele. Es heißt, er sei einer gewesen, und hin und wieder wird ihm das zu Ohren gekommen sein.

Als vor sechs Jahren Barbara Simon starb, verließ den Mutmacher der Mut. Mit vielen stand er noch im Kontakt, aber diese eine fehlte ihm so sehr. Ein Trost war es, dass er seine letzten Wochen auf Hermannswerder verbringen konnte, da, wo er sein Abitur abgelegt, der erste Ort, an dem er sich frei gefühlt hatte.

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