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Maryam Mardani, Nana Morozova und Khalid Al Aboud, Redakteure bei „Amal, Berlin!“

© Anas Khabir

Tage des Exils: „Entwurzelt wird man unsichtbar“

Wie Journalisten aus der Ukraine, Syrien, Iran und Afghanistan bei Amal, Berlin! zusammenarbeiten: ein Laborbericht.

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Seit 2016 berichten syrische, afghanische und iranische Journalist:innen auf der lokalen Nachrichtenplattform Amal für Geflüchtete über alles, was in Berlin wichtig ist. Vor genau einem Jahr erweiterten sie ihre Redaktion und nahmen Kolleginnen aus der Ukraine auf.

Das war ein Experiment: Wie klappt die Zusammenarbeit? Wie gehen sie um mit den Unterschieden und damit, dass Geflüchtete unterschiedlicher Herkunft in Deutschland sehr unterschiedlich gut behandelt werden?

Ein Laborbericht aus drei Perspektiven: von Nana Morozova, Leitende Redakteurin und Koordinatorin von Amal Berlin Ukraine, Amal-Redakteur Khalid Al Aboud, Journalist aus Syrien, und Maryam Mardani, Amal-Redakteurin und Journalistin aus dem Iran.

Nana Morozova, Ukraine: „Endlich bin ich unter meinesgleichen“

„Meine Woche war eine gute Woche...“ So beginnt das wöchentliche Treffen der 15 Journalisten im Berliner Büro von Amal. In einem großen Raum mit einer dunkelblauen Wand sprechen sie alle über Neuigkeiten aus ihrem Leben, manchmal sehr persönliche Dinge. Russische Raketen, die ukrainische Städte und Dörfer bombardieren, Frauenprozesse und die Ermordung von Aktivisten im Iran, Bürgerrechtsverletzungen in Afghanistan, der Tod von Freunden und Familienmitgliedern in so unterschiedlichen und weit entfernten Ländern ...

So war es auch an meinem ersten Tag bei Amal Berlin vor genau einem Jahr. Ich befand mich in der Tiefe der Selbstzweifel. Ich war verwirrt, nachdem ich mit meiner Tochter aus Kiew geflohen war, wo mein Mann geblieben war, um im Zivilschutz der Hauptstadt zu dienen.

Aber nach einer langen Suche nach einer Wohnung und einem Job, nach Monaten der Einsamkeit und des Überlebenskampfes in einer fremden Umgebung ohne Deutschkenntnisse fand ich mich schließlich in einer warmen Umarmung wieder. Ich war von Fremden umgeben, die genau wussten, wie ich mich fühlte. Ich konnte es nicht glauben! Ich befand mich auf der gleichen Reise wie sie vor zehn Jahren.

„Wir verstehen Sie sehr gut“ - diese Worte reichten aus, um mich aufatmen zu lassen. Endlich war ich unter meinesgleichen.

Unterschiedliche Ansichten, gleiches Ziel

Manchmal stimmen unsere Ansichten über die Nachrichten nicht überein. Die Gemeinschaften der Länder, aus denen meine Kollegen kommen, interessieren sich mehr für das politische Leben in Deutschland, Staatsbürgerschafts- oder Abschiebungsgesetze und Polizeiberichte über Straftaten.

Zersplitterte Identität: das Key Visual der Reihe „Tage des Exils“ von Khaled Barakeh.
Zersplitterte Identität: das Key Visual der Reihe „Tage des Exils“ von Khaled Barakeh.

© Khaled Barakeh

Die ukrainische Gemeinschaft möchte Nachrichten über die Unterstützung des deutschen Staates für die Ukraine, die Aktivistenbewegung in Berlin, das künstlerische Leben, die Situation auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt und die Möglichkeiten der persönlichen Entwicklung. Raubüberfälle und Unfälle wecken natürlich Sympathie für die Opfer.

Aber sie sind nicht vergleichbar mit den Emotionen nach Nachrichten über Angriffe von Marschflugkörpern und Kamikaze-Drohnen oder über russische Truppen, die in den besetzten Gebieten Massengräber für Hunderte von Zivilisten ausheben, Frauen vergewaltigen und Kinder entführen. Die Verbundenheit mit dem beschossenen Heimatland ist zu stark. Wir sind immer noch dort. Wir sind in Deutschland noch nicht aufgegangen.

Aber es gibt Projekte, die unsere Redaktionen vereinen. Im Frühjahr 2023 zum Beispiel gingen zehn Journalisten für zwei Wochen auf eine Recherchereise nach Nordniedersachsen. Ziel unseres gemeinsamen Projekts „Amal on Tour“ war es, das Leben von Migranten aus verschiedenen Ländern in Hannover und den umliegenden kleinen Dörfern und Städten zu dokumentieren.

Wir besuchten arabische Restaurants und Bäckereien, Gemeindezentren, die ukrainische Flüchtlinge unterstützen, und trafen uns mit Aktivisten und Kirchenführern, die Flüchtlingen aus Syrien, der Türkei und Afghanistan helfen. Wir haben Artikel über ihre Arbeit und ihre Träume auf unserer Website und in den sozialen Medien veröffentlicht. In verschiedenen Sprachen sprechen sie über dieselbe Sache - die Fähigkeit, unter schwierigsten Bedingungen zu überleben.

Salz und Freundschaft

Ich umarme Maryam ganz fest und spüre, dass ihre Umarmung ebenso warm ist. Es war ihr Geburtstag, und ich habe ihr ein Kräutersalz geschenkt, das ich in der Ukraine hergestellt habe. Ich hatte es von meiner letzten Reise nach Kiew im Frühsommer mitgebracht. Ich kann jederzeit nach Hause in den Urlaub fahren.

Ja, es gibt einen harten Kampf um das Überleben meines Landes. Aber trotz des Risikos fahre ich immer noch alle zwei oder drei Monate mit dem Bus von Berlin nach Kiew. Ich vermisse meinen Mann und unser gemütliches Zuhause sehr. Auch wenn die Fenster mit Folie beklebt sind, damit sie beim nächsten Beschuss nicht zerbrechen.

Maryam kann nicht nach Hause zurückkehren. Ahmad kann es auch nicht. Und Noorullah und Dawod auch nicht. Syrien und Afghanistan werden von kannibalischen Regimen regiert, und die Welt kämpft nicht so hart für die Heimat meiner Kollegen wie für die Ukraine. Wir werden mit Waffen beliefert und erhalten Kredite. Die Ukraine verschwindet nicht von den Titelseiten der Zeitungen.

„Du hast Glück“, sagt mein Freund Khalid, „ich bin seit neun Jahren nicht mehr zu Hause gewesen. Ich würde mein Land gerne wenigstens von der anderen Seite der Grenze sehen...“ Er bewundert sein Haus mit den hohen Decken und den großen Fenstern, die eine herrliche Aussicht bieten. Als Kind sah er jeden Abend, wie die Sonne hinter dem Horizont verschwand. Jeden Abend ...

Ich teile sein Heimweh. Aber es gibt einen wichtigen Unterschied: Ich weiß sehr genau, dass ich nach Kiew zurückkehren werde.

Die Arbeit ist für uns zu einem Rettungsanker geworden.

Nana Morozova, Journalistin aus der Ukraine

Aber ob wir nun dauerhaft oder vorübergehend hier sind, die Arbeit ist für die Journalisten von Amal, Berlin! zu einem Rettungsanker geworden. Sie ist nicht nur eine Ablenkung von traurigen Gedanken. Es ist nicht nur ein Einkommen, das uns finanziell unabhängig von der Sozialversicherung macht. Wir spüren, dass wir die Welt zum Besseren verändern.

Wir informieren diejenigen, die die Sprache noch nicht gelernt oder neue Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung gefunden haben, über die Nachrichten aus Berlin und Deutschland. Diejenigen, die nicht wissen, wie sie sich in der neuen Umgebung zurechtfinden, wie sie sich ehrenamtlich engagieren können, wie sie eine Wohnung oder Gleichgesinnte finden, wie sie das eher verwirrende politische Leben verstehen können.

Wir haben mit Maryam wiederholt darüber gesprochen, wie wichtig es ist, Flüchtlingen das Wahlrecht zu geben. Aber nicht nur die einfachen Menschen brauchen es, sondern auch wir Journalisten brauchen es. Wenn man von seinen Wurzeln abgeschnitten ist, wird man unsichtbar, transparent für andere. Deshalb arbeiten wir jeden Tag nicht nur daran, Artikel, Berichte, Interviews und Analysen zu schreiben. Die Journalisten von Amal, Berlin! nehmen auch an verschiedenen Veranstaltungen teil, um dem deutschen Publikum von sich und ihren Gemeinschaften zu erzählen.

Autorin: Nana Morozova, Leitende Redakteurin und Koordinatorin von Amal Berlin Ukraine

Khalid Al Aboud, Syrien: Alle sitzen im gleichen Boot, allerdings auf verschiedenen Decks

Wir diskutieren täglich in unseren Redaktionskonferenzen darüber, was unsere Leser:innen interessiert und stellen immer wieder fest, wie sehr sich unterscheiden. Was bei unseren arabischen, afghanischen und iranischen Lesern gut läuft, interessiert die Ukrainer:innen nicht. Der Hintergrund ist natürlich die Politik: Ukrainer:innen haben keine Angst vor Abschiebung und sie sind weniger betroffen vom Hass und Rassismus rechter Parteien.

Ukrainer:innen haben einen anderen Aufenthaltsstatus, bekommen schneller Zugang zum Arbeitsmarkt und ihre Kinder können mit wenig Deutschkenntnissen reguläre Schulen und Universitäten besuchen. Man kann sagen, dass unsere ukrainischen Leser:innen das Privileg haben, sich auch für die Themen des wahren Lebens zu interessieren: Mode, Stadtleben und Bildung.

Es gibt allerdings auch Themen, da können wir sicher sein, dass wir alle unsere Communities erreichen: Artikel über Probleme mit der deutschen Bürokratie und über Wohnungsnot laufen auf der ukrainischen Seite ebenso gut wie auf der arabischen und persischen Seite.  

Maryam Mardani, Iran: Ich sah ihre Gesichter und wusste, was sie fühlen

Am ersten Tag, als die ukrainischen Flüchtlinge nach Berlin kamen, war ich am Berliner Hauptbahnhof. Mit der Kamera in der Hand, um eine Reportage zu machen, versuchte ich mir einen Weg zwischen Menschen und Gepäck zu bahnen. Es waren viele Frauen und Kinder mit müden Blicken voller Zukunftsangst. So habe ich mich auch gefühlt, als ich den Iran verlassen habe.

Kurze Zeit darauf haben wir unsere Redaktion für Kolleginnen aus der Ukraine geöffnet und vor einem Jahr ging die ukrainische Seite von Amal online. Bei Amal finden nun auch ukrainische Geflüchtete alle Nachrichten über Berlin und die Informationen, die sie für den Start im neuen Land und zum Überleben brauchen. Uns Journalisten von Amal verbindet die gemeinsame Arbeit und auch die gemeinsame Erfahrung.

Neulich stand ich mit einem syrischen Kollegen und einer ukrainischen Kollegin in unserer Büroküche bei einer Tasse Tee und erzählte davon, dass viele meiner Angehörigen im Iran glauben, dass ich hier in Deutschland unglaublich reich geworden bin. Die anderen beiden lachten und sagten, dass es ihnen ähnlich ginge. Kein Mensch würde glauben, dass man auch in Deutschland knapp bei Kasse sein kann.

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