zum Hauptinhalt
Szene aus „Bihar - Vier Balladen für meinen Vater“ von Cemile Şahîn.

© Ercan Ayboga, Cemile Sahin

Bihar: Vier Balladen für meinen Vater: Heimat unter Wasser

Der Film „Bihar - Vier Balladen für meinen Vater“ (kurdisch: Frühling) erzählt von einer Familie, die im Zuge eines Staudammprojektes der türkischen Regierung im Pariser Exil landet.

Gerade noch lebte Familie Bingöl in einem jetzt über 4000 Kilometer entfernten Landkreis namens Heweng in Urfa, einer Stadt im Südosten der Türkei. Das liegt im kurdischen Siedlungsgebiet.

Jetzt ist die Heimat verloren. Die Bingöls wohnen versprengt in Paris und Istanbul. Doch ihre alte Gegend lagert sich auch in den Namen der beiden erwachsenen Kinder ab: Firat und Dicle lauten die kurdischen Namen der zwei Flüsse, die in die Region fließen, aus der sie vertrieben wurden.

Was hat das neue Leben in Paris mit den Problemen in Urfa zu tun? Diese Frage steht im Mittelpunkt des Spielfilms „Bihar: Vier Balladen für meinen Vater“ von Cemile Şahîn, der an diesem Mittwoch in der Berliner Volksbühne aufgeführt wird.

Es ist der Auftakt einer insgesamt vierteiligen Reihe über Auswirkungen politischer Willkür auf das Leben, den Alltag und die Zukunft von Menschen, die vom großen Staudammprojekt im Südosten der Türkei betroffen sind.

Die Bingöls sind eine kurdische Familie, die dort lebte, bis sie aufgrund der Überschwemmung im Zuge des von der Regierung initiierten Staudammbaus gezwungen war, ihr Zuhause zu verlassen und zu emigrieren. Die Familie ist fiktiv, nicht aber ihre Lebensumstände.

Überflutung, Zwangsumsiedlung, Traumata

Das seit den 1980er Jahren laufende GAP (Güneydogu Anadolu Projesi, türkisch für Südostanatolienprojekt) umfasst Wasserkraftwerke, Bewässerungsanlagen, Staudämme. Ein Kanalsystem soll laut Regierung zu einer kontrollierten Bewässerung und einem wirtschaftlichen Aufschwung beitragen. Doch viele Menschen sind durch die Zwangsumsiedlungen vor Ort traumatisiert, andere mussten wegen der Überflutungen ganz wegziehen.

Statt die Entstehungsgeschichte des politisch motivierten Bebauungsprojekts noch einmal nachzuzeichnen, setzt die in Wiesbaden geborene alevitisch-kurdische Regisseurin, Schriftstellerin und Künstlerin Cemile Şahîn auf tiefgründige Charaktere und nachhallende Sprachbilder.

Einer der Protagonisten ist ein Geschäftsmann in leitender Position des Pariser Büros einer türkischen Textilfirma. Deren Baumwollplantagen sollen - als Film im Film - in einer Dokumentation eines französischen Senders über die Auswirkungen des GAP-Projekts Erwähnung finden.

Tochter inhaftiert, Vater verschwunden

Die anderen sind eine Familie, die einst auf diesen Baumwollplantagen arbeitete, nun nur noch bestehend aus der Mutter Leyla, dem Sohn Firat und dem Onkel Kazim, weil der Vater Hasan in Polizeigewahrsam verschwunden ist und die vom Staat kriminalisierte Tochter Dicle nach vierjähriger Haft mit Ausreiseverbot in Istanbul ausharrt.

Ein zu Beginn des Films unübersichtlich erscheinendes Setting, das trotzdem aufgeht und sich zu einer großen Anklage gegen die Unterdrückung der Kurden in der türkischen Geschichte erhebt.

„Ich vergebe nur dem Leben, nicht den Menschen“

Die Bingöls sind eine Familie mit hängenden Schultern und müdem Lächeln. Irgendwann meint man, die gebrochenen Hoffnungen an den schweren Augenlidern zu erkennen und die Zukunftsängste in den abgearbeiteten Gesichtszügen abzulesen, wenn der Sohn Firat (Baran Hêvi) sagt: „Ich vergebe nur dem Leben, nicht den Menschen“.

Das Leben, sagt Leyla (Rugeş Kırıcı), die Mutter von Firat, sei schön und traurig zugleich. Sie habe das Leben verstanden, sagt sie auf Kurdisch, „Ez jiyane fam dikim“. Die Familie wirkt auch deshalb so authentisch, weil ihre Geschichte exemplarisch für viele der Vertriebenenschicksale der Region ist.

In die Spielszenen sind immer wieder Videosequenzen realer Proteste der Vergangenheit eingebettet. Kundgebungen der kurdischen Bevölkerung, die die Polizei mit Gewalt auseinandertreibt.

Schreiende Frauen mit Kindern im Arm, Polizeihunde, verhaftete Jugendliche. Es ist erstaunlich, mit welcher Offenheit „Bihar - Vier Balladen für meinen Vater“ Kritik an den bis heute negierten ökologischen und sozialen Folgen des Regierungsprojekts übt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false