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Türkische und armenische Bürger halten Bilder von getöteten armenischen Völkermordopfern.

© dpa/Sedat Suna

100 Jahre Leid: So blicken die Berliner Minderheiten aus der Türkei auf den Nationalfeiertag

Der Nationalfeiertag in der Türkei wirft zum 100. Mal die Frage auf: Wer feiert und wer trauert? Kritische Stimmen aus Berlin erinnern an die Schattenseiten der Republikgründung.

In der Türkei wird am 29. Oktober jedes Jahres der Tag der Republik groß gefeiert. Neben der Türkei ist der Unabhängigkeitstag auch in Nordzypern ein Feiertag. Gute Laune, Huldigung an den Gründungsvater Mustafa Kemal Atatürk und Patriotismus bestimmen den Tag.

In allen Städten der Türkei sind die Straßen beflaggt, in allen Fernsehsendern prangt der Kopf von Mustafa Kemal Atatürk am Rand des Bildschirms. Schulen organisieren schon Tage vorher Aufführungen und Feierlichkeiten. Und das Verteidigungsministerium lädt zu einer Parade auf dem Bosporus mit Kriegsschiffen und einer Flugshow. Der Gouverneur von Istanbul, Davut Gül, sagte zum diesjährigen Jubiläum: „So wie wir den Geburtstag unserer Kinder feiern, müssen wir am Geburtstag unserer Republik unsere Städte schmücken.“

Doch nicht für alle Bevölkerungsgruppen, die aus dem Gebiet der heutigen Türkei stammen, ist dieser Tag ein Grund zum Feiern. Was bei den Feierlichkeiten ausgeblendet wird, sind die Vorwürfe der Minderheitengruppen, die bis heute um die historische Aufarbeitung der Vertreibungen und Massenmorde unter Atatürk kämpfen. Während viele Türkeistämmige in Berlin diesen Tag als besonderen und positiven Tag erleben, stellt er für viele andere Gruppen in Berlin einen Tag der Trauer dar.

Kurden

Die Kurden sind eine der größten Einwanderergruppen in Deutschland, über die jedoch nur wenig bekannt ist. Dies liegt vor allem daran, dass es keinen eigenen kurdischen Staat gibt und die Kurden daher beispielsweise weder im Mikrozensus noch im Ausländerzentralregister erfasst werden.

Über die Bevölkerungszahl der Kurden in Berlin gibt es mehrere Schätzungen. Die zivilgesellschaftliche kurdische Organisation Yekmal geht davon aus, dass etwa 110.000 Kurden in Berlin leben. Dabei soll die größte Gruppe der in der europäischen Diaspora lebenden Kurden mit 80 Prozent aus der Türkei stammen.

Viele von ihnen verbinden das Jubiläum mit Verboten und Repressionen. „Die Hundertjahrfeier der türkischen Republik erinnert die Kurden an eine lange Geschichte von Leid und Kampf. Sie repräsentiert für die Kurden ihren Schmerz und ihre Tränen“, sagt Günay Darici, Geschäftsführerin von Yekmal. „Die Kurden waren mit der Gründung der Republik und in den folgenden Jahren mit der Nichtanerkennung ihrer nationalen Identität, kultureller Assimilation, Sprachverboten und Repressionen konfrontiert.“

Sie repräsentiert für die Kurden ihren Schmerz und ihre Tränen.

Günay Darici über die türkische 100-Jahr-Feier

So wurde die Verwendung der kurdischen Sprache verboten, kurdische Schulen wurden geschlossen, und die kurdische Sprache wurde im Laufe der Zeit systematisch unterdrückt und fast ausgelöscht, so Darici. „Das kulturelle Erbe der Kurden sollte vergessen gemacht werden. Kindern wurde verboten, kurdische Namen zu tragen, geografische Bezeichnungen wurden geändert, und alle Bezüge zur kurdischen Identität und Kultur sollten gelöscht werden.“

Während dieses historischen Prozesses seien Tausende junger Kurden gestorben, kurdische Politiker wurden inhaftiert und die kurdische Gemeinschaft unterdrückt. „In einer Gesellschaft, in der verschiedene Kulturen und Glaubensrichtungen unterdrückt werden, gestaltet sich der Weg zu einer Lösung als eine schwierige Aufgabe.“

Günay Darici in den Räumlichkeiten des gemeinnützigen kurdischen Vereins Yekmal im Berliner Stadtteil Kreuzberg.

© privat

Aufgrund der langjährigen Sprachverbote und der bis heute andauernden Diskriminierung der kurdischen Sprache in der Türkei beherrschen viele junge Kurden ihre Muttersprache nicht. Nicht wenige sind mit Türkisch statt mit Kurdisch aufgewachsen.

Als Gegenmaßnahme haben sich auch in Berlin Initiativen zur Förderung der kurdischen Sprache gebildet. Die Sprachschule Adar in der Neuköllner Silbersteinstraße bietet regelmäßig Kurdischkurse unterschiedlicher Niveaustufen an und veranstaltet Lesungen sowie Film- und Musikvorführungen in kurdischer Sprache.

„Nach hundert Jahren ist Kurdisch für die türkischen Behörden eine unbekannte Sprache. Kurdisch wird nicht unterrichtet, journalistische Arbeit über Kurden wird bestraft, Musiker werden angegriffen und getötet, wenn sie auf Kurdisch singen“, sagt Ciwan Tengezar, Musiker und Mitbegründer der Adar-Schule. „Bis heute gibt es ein offizielles Verbot kurdischer Buchstaben.“

Neben Kurdischkursen macht Ciwan Tengezar auch Musik, meist in kurdischer Sprache.

© privat

100 Jahre Türkische Republik, so Tengezar, bedeuteten für die ethnischen und religiösen Minderheiten Gefängnis, Tod, Exil, Schmerz, Hoffnungslosigkeit, Trauer und Trauma. „Nur mit der Befreiung der Kurden können sich auch die Türken befreien.“

Armenier

Während des 20. Jahrhunderts wurden Armenier in der Türkei wiederholt diskriminiert und vielen Restriktionen und Benachteiligungen unterworfen. Dies führte dazu, dass die armenische Gemeinschaft schrumpfte und sich in den Hintergrund zurückzog.

Auch in der Berliner Diaspora spüren die Armenier den türkischen Nationalismus deutlich. Einer der kontroversesten und langwierigsten Streitpunkte in den Beziehungen zwischen der türkischen Diaspora und den Armeniern ist die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern (1915/16). Während die internationale Gemeinschaft den Völkermord als historische Tatsache anerkannt hat, wird er von türkischen Nationalisten in der Diaspora geleugnet oder relativiert. Zudem werden Armenier als Feindbild dargestellt, oft durch die Verbreitung von Verschwörungstheorien.

Jedes Mal, wenn ich im Uber nach meiner Herkunft gefragt werde, überkommt mich ein Gefühl der Beklemmung.

Tatev Byan über ihr Leben als Armenierin in Berlin

Die Armenierin Tatev Byan lebt in Berlin und weiß um Probleme in der Diaspora. „Als Armenierin in Deutschland ist man unsichtbar, als Armenierin in Berlin ist man lieber unsichtbar. Wie sehr ich auch diese Stadt liebe, sie erinnert mich immer wieder an die Probleme, mit denen unsere Leute zu kämpfen haben. Bei jeder Demo mit armenischen oder Artsakh-Flaggen werden wir von türkischen Faschisten angegangen. Jedes Mal, wenn ich im Uber nach meiner Herkunft gefragt werde, überkommt mich ein Gefühl der Beklemmung.“

Tatev Byan (Mitte) demonstriert in Berlin gegen die aserbaidschanische Blockade von Artsakh.

© Erik Weiss

Man könnte meinen, dass man mit Migration die Probleme der Heimat hinter sich lasse, sagt Byan, aber oft werde es nur schlimmer, denn es gibt keinen Schutzraum. „Die einen feiert 100 Jahre Republikgründung, während die anderen über 100 Jahre Vertreibung und Vernichtung betrauern. Heute gedenken wir all dessen, was wir verloren haben, und dem anhaltenden Kampf von Generation zu Generation für Gerechtigkeit und Frieden für unsere Völker.“

Aleviten

Mit gemischten Gefühlen blickt auch die Alevitische Gemeinde in Berlin auf das 100-jährige Bestehen der Türkischen Republik. In Berlin befindet sich seit 1999 das größte alevitische Versammlungs- und Gebetshaus Deutschlands. Ursprünglich eine neuapostolische Kirche in der Waldemarstraße im Berliner Stadtteil Kreuzberg, gehört das sogenannte Cemevi seit den 2000er Jahren dem Alevitischen Kulturverein.

Das Alevitentum ist eine der ältesten Religionen Anatoliens und Mesopotamiens mit schätzungsweise 50 Millionen Anhängern weltweit. Durch Migrationsbewegungen finden sich alevitische Gemeinden in vielen Ländern der Welt, die ihre Einzigartigkeit in Gottesdienst und Glaubensgrundsätzen verteidigen.

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Obwohl allgemein angenommen wird, dass sich diese Politik mit der Gründung der Türkischen Republik 1923 gelockert hat, stellt sich die Situation in Wirklichkeit ganz anders dar, so die im Berliner Exil lebende türkische Soziologin Nil Mutluer. „Nach der Ausrufung der Republik wurden die Aleviten weiterhin als Randgruppe behandelt, da das Staatsbürgerschaftskonzept des republikanischen Staates sunnitisch ausgerichtet war.

Die Aleviten hatten nach der Republik keine institutionelle Struktur mehr, betont Nazım Karataş, Generalsekretär der Alevitischen Gemeinde zu Berlin. „Die gesamte Infrastruktur der Aleviten und die Orte, an denen sie sich organisiert getroffen haben, wurden zerstört. Der Staat zwang die Aleviten zur Assimilation, die Aleviten mussten sich verstecken und ihre Existenz wurde von allen Seiten geleugnet“.

Unter Mustafa Kemal Atatürk hat man versucht, den alevitischen Glauben zu zerstören.

Nazım Karataş, Generalsekretär der Alevitischen Gemeinde zu Berlin

Massaker an Aleviten wie in Dersim 1937/38 werden von der türkischen Regierung bis heute geleugnet. „Gerade Dersim hat eine Besonderheit, denn es ist das Zentrum wichtiger alevitischer religiöser Stätten, ein kulturelles Zentrum, deshalb spreche ich hier lieber von einem kulturellen Genozid“, sagt Karataş.

Unter Mustafa Kemal Atatürk habe man versucht, den alevitischen Glauben zu zerstören: „Und sie waren teilweise erfolgreich, weil sie Tausende, die dort überlebt hatten, in andere muslimische Siedlungen vertrieben haben, wo sie mit der Zeit assimiliert wurden.“ Die Aleviten hätten in der Türkischen Republik nur überleben können, wenn sie sich selbst verleugnet hätten.

Dennoch könne er beobachten, dass viele Aleviten Atatürk immer noch sehr bewunderten, so Karataş. Das liege an einem Schwarz-Weiß-Denken, das die Aleviten gespalten habe. „Selbst diejenigen, die sich eigentlich nie um Atatürk gekümmert haben, haben aufgrund ihrer kritischen Haltung gegenüber der AKP begonnen, Sympathien für ihn zu entwickeln“.

Auch in Berlin spürt die alevitische Gemeinde ihre Diskriminierung. „Allein die Tatsache, dass einer der Täter des Massakers von Sivas vor 30 Jahren heute frei in dieser Stadt leben kann! Außerdem erleben alevitische Kinder oft Ausgrenzung in der Schule, besonders im Ramadan, wenn alle fasten und sie nicht, stößt das oft auf Unverständnis und Häme“.

Ponten/Griechen

Während der Regierungszeit von Mustafa Kemal Atatürk und der Gründung der Türkischen Republik im Jahr 1923 wurden in der Türkei zahlreiche Reformen und politische Veränderungen durchgeführt. Eine dieser Reformen betraf die Angehörigen nicht-türkischer Minderheiten, darunter die griechische Minderheit in der Türkei, die oft als „Pontosgriechen“ bezeichnet wird.

Die Pontosgriechen lebten hauptsächlich in der nordöstlichen Region der Türkei, die als Pontosregion bekannt ist. Nach der Gründung der Republik Türkei verfolgte die Regierung Atatürks eine Politik der Assimilation und Homogenisierung. Dies führte zur Vertreibung und Auswanderung vieler Pontosgriechen aus der Türkei.

Parthena Iordanidou und Eleni Temirtzidou sind Aktivistinnen von Mneme, einer europäischen Initiative für eine inklusive Erinnerungskultur und mehrdimensionale Aufarbeitung von Völkermord und Vertreibung, die auch in Berlin aktiv ist.

„Der 29. Oktober ist für alle Türken und Türkinnen ein feierlicher Tag. Heute vor genau 100 Jahren verloren wir Pontosgriechinnen und Pontosgriechen, Griechinnen und Griechen Kleinasiens und Ostthrakiens, unsere Heimat endgültig. Ein Wort beschreibt unsere Gedanken an diesem Tag: Traumaerwachung“, sagt Iordanidou. „Verbindlich denken wir an unsere Großeltern, die uns Geschichten von der entfernten und unvergesslichen Heimat erzählten. Geschichten voller Schmerz, Tränen und Hoffnung, dass sie, bevor sie diese Welt verlassen, ihre Heimatgebiete noch einmal sehen könnten. Doch dieser sehnsüchtige Wunsch wurde nie erfüllt.“

Logo des Aktionstages der pontischen Initiative zum 100. Jahrestag der Türkischen Republik.

© Mneme Initiative

Bitterkeit und das Gefühl der Ungerechtigkeit begleiten ihre Gedanken an diesem Tag, so Iordanidou. „Die Türkei tötete ihre indigenen Völker, die Griechen, Armenier, Assyrer/Aramäer/Chaldäer und feiert dieses Ereignis jährlich. Millionen Menschen feiern Genozid, Vertreibung, Verfolgung, Vernichtung und Entwurzelung.“ Dass marginalisierte Gruppen in der Türkei auch in Deutschland immer noch Angst vor türkischem Rechtsextremismus haben müssen, prangern die beiden Aktivistinnen ebenfalls an.

Auch Giorgos D. ist in den pontischen und griechischen Vereinen der Stadt aktiv. Der 23-Jährige hat in Berlin eine deutsch-griechische Schule besucht. „In unserer griechischen Gemeinschaft in Deutschland gibt es sehr viele Griechen aus der pontosgriechischen Gemeinschaft, also Nachkommen der von Völkermord und Vertreibung betroffenen ethnischen Griechen von der türkischen Schwarmeerküste.“

Neben dem alltäglichen Rassismus, den man als Migrant erfährt, ist auch die Diskriminierung durch den türkischen Faschismus in Deutschland für mich und viele andere aus den Minderheiten Anatoliens Realität.

Giorgos D., Aktivist und Student aus Berlin

Einige seiner Lehrer stammten aus dem damaligen Konstantinopel (heute Istanbul), „aber ihre Familien mussten in den 50er Jahren vor den Pogromen gegen die Griechen in der Stadt fliehen“. Giorgos Urgroßvater war selbst vom sogenannten Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der damals neu gegründeten Republik Türkei betroffen. Er wurde als zweijähriges Waisenkind nach Griechenland in die Region Thessalien gebracht.

„Lange Zeit hat meine Familie das Thema verdrängt. Doch vor einigen Jahren fand mein Onkel in der Wohnung meiner Großeltern ein Foto meines Urgroßvaters, auf dessen Rückseite auf Griechisch stand: „Das Kind von Muzaret“. Nach kurzer Recherche fanden sie heraus, dass es sich dabei um ein Dorf in der ostanatolischen Region Kars handelte, in dem vor der Vertreibung und dem Völkermord auch viele Pontosgriechen lebten.

„Neben dem alltäglichen Rassismus, den man als Migrant in Deutschland von der Mehrheitsgesellschaft erfährt, ist auch die Diskriminierung durch den türkischen Faschismus in Deutschland für mich und viele andere aus den Minderheiten Anatoliens Realität“, sagt Giorgos D.

Deshalb feiert er auch nicht den 100. Geburtstag der Türkischen Republik, denn für ihn bedeutet er die Kontinuität der Diskriminierung seines und anderer nicht-türkischer Völker. „Wer sich wirklich für die andere Realität der Türkei und die ungefilterte Geschichte der Republik interessiert, muss besonders den Minderheiten in dieser Republik zuhören, sei es in der Türkei, in Deutschland oder in Berlin.“

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