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Eine Szene aus „Genossin Kuckuck“ von Anke Feuchtenberger.

© Reprodukt

Avantgarde-Comic von Anke Feuchtenberger : „Genossin Kuckuck“ für Literaturpreis nominiert

Anke Feuchtenberger ist mit „Genossin Kuckuck“ für den Preis der Leipziger Buchmesse 2024 im Bereich Belletristik nominiert worden – als erste Comiczeichnerin überhaupt.

| Update:

Mit der Künstlerin Anke Feuchtenberger ist am Donnerstag zum ersten Mal überhaupt eine Comicautorin in der Kategorie „Belletristik“ für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert worden. Im vergangenen Jahr war Birgit Weyhe mit ihrer Graphic Novel „Rude Girl“ in der Kategorie „Sachbuch“ unter den Nominierten. Feuchtenbergers autobiografisch inspirierte Bilderzählung „Genossin Kuckuck“ erzähle in „magisch-düsteren Bildern“ nicht nur von einer komplexen Kindheit und Jugend im deutschen Osten, sondern öffne „immer wieder fantastische Tiefenräume, auch ins kollektive Unbewusste“, heißt es in der Begründung der Jury. Im Zusammenspiel der Bilder und der poetischen Zwischentexte entstehe „eine eigene Mythologie, in der Mädchen, Tiere und Pilze die Realität des real existierenden Sozialismus transzendieren.“ Wir veröffentlichen aus Anlass der Nominierung hier erneut die Tagesspiegel-Rezension des Buches aus dem September 2023.

Der Rat der Tiere hat eine wichtige Frage zu verhandeln. „Wann darf eine Mutter ihr Kind verlassen?“ Darüber diskutieren ein Fuchs, ein Marder und ein Rabe in einer Schlüsselszene von „Genossin Kuckuck – Ein deutsches Tier im deutschen Wald“ (Reprodukt, 448 S., 44 €). 

Das Thema zieht sich als Leitmotiv durch die verschachtelte Comic-Geschichte, in der Anke Feuchtenberger in einer Mischung aus realistisch anmutenden Passagen sowie an Märchen erinnernden Fabel- und Traumsequenzen vom Aufwachsen eines Mädchens in einem ostdeutschen Dorf ab den 1960er Jahren und ihrem Erwachsenwerden bis in die Jahre nach dem Mauerfall 1989 erzählt.

Die Hauptfigur von „Genossin Kuckuck“, Kerstin, ist offensichtlich stark von Feuchtenbergers eigener Biografie inspiriert.

© reprodukt

Im Zentrum stehen Kerstin und Effi, die am Anfang als junge Mädchen eingeführt werden und die jede auf ihre Weise von der eigenen Mutter verlassen wurden. Die eine schon früh im Leben, als ihre Eltern sie zu Großmutter und Tante gaben, um sich dem Aufbau des Sozialismus widmen zu können, die andere im Verlauf der Erzählung.

Feuchtenberger, die hier offensichtlich tief aus der eigenen Biografie geschöpft hat, erzählt davon in kunstvollen, ruhigen Bildfolgen. Rund 13 Jahre hat die 1963 in Ost-Berlin geborene Zeichnerin, die in Mecklenburg-Vorpommern lebt und seit 1997 an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg im Fachbereich Design unterrichtet, an diesem Werk gearbeitet.

Das Ergebnis beeindruckt durch eine künstlerische Reife und erzählerische Tiefe, die „Genossin Kuckuck“ zum herausragenden Spätwerk einer Künstlerin machen, die den deutschen Avantgarde-Comic in den vergangenen Jahrzehnten wie wohl keine zweite geprägt hat.

Die Kulisse für „Genossin Kuckuck“ ist ein kleines Dorf namens Pritschitanow, hier eine in den 1960er Jahren spielende Szene.

© reprodukt

Mit seit den frühen 90er Jahren geschaffenen Werken wie „Die Hure H“ (zusammen mit der Autorin Katrin de Vries) und „Somnambule“ war sie eine Pionierin des poetischen Avantgarde-Comics. Als Professorin hat sie mehrere Zeichnergenerationen geformt, unter ihren Schülerinnen und Schülern waren Barbara Yelin, Birgit Weyhe, Simon Schwartz, Sascha Hommer und viele andere herausragende Comicschaffende.

Schneckenplagen, Kinderspiele, historische Traumata

„Genossin Kuckuck“ spielt zum größten Teil in einem kleinen Dorf namens Pritschitanow, das viele Parallelen mit jenem Ort aufweist, an dem Feuchtenberger aufwuchs und in den sie als Erwachsene dauerhaft zurückkehrte. Auf der vordergründigen Handlungsebene erzählt die Zeichnerin von alltäglichen Erlebnissen und den Beziehungen der Menschen untereinander und zur sie umgebenden Natur.

Die Spätfolgen von Krieg, Vertreibung und russischer Besatzung sind eines der Themen, die in dem Buch behandelt werden.

© reprodukt

Es geht um Schneckenplagen, Kinderspiele und kindliche Grausamkeit, Freundschaften und ihr Ende, Feldarbeit, Alkoholismus, gemeinsame Feste und Momente der Solidarität, die Spätfolgen von Krieg, Vertreibung und russischer Besatzung sowie den Übergang vom DDR-Sozialismus zum Kapitalismus nach dem Fall der Mauer mit all seinen Verwerfungen.

Vor allem aber ist „Genossin Kuckuck“ ein gezeichneter Bildungsroman, die Geschichte eines sensiblen, empathischen und zu seinem Glück mit viel Fantasie ausgestatteten Kindes in einer von einigen Ausnahmen abgesehen feindseligen, rauen Umgebung.

Jochen, der Bruder von Kerstin, ist eine der wichtigen Bezugspersonen im Leben der Hauptfigur.

© reprodukt

Was die junge Kerstin mit ihren großen, immer etwas traurig blickenden Augen erleben und mitansehen muss, ist Stoff für Traumata: Alltägliche Gewalt, Verrohung, Einsamkeit, sexuelle Übergriffe, das Gefühl des Ausgeliefertseins gegenüber anderen und rigide gesellschaftliche sowie politische Zwänge sind einige der Themen, die mal mehr und mal weniger deutlich behandelt werden.

Die große Frau im Waldsee

Dass sie dennoch vieles scheinbar ohne größere Schäden übersteht, ist neben der zumindest stellenweise durchscheinenden Liebe ihrer Großmutter und ihres Bruders offensichtlich auch ihrer Gabe zu verdanken, sich in Traumwelten zurückzuziehen, in denen sie Schutz findet und Erlebtes verarbeiten kann: Mal in Gesellschaft märchenhafter Schneckenkinder, sprechender Gänse und anderer Tier-Mensch-Hybride, mal an der Brust einer mysteriösen „großen Frau“, die sie mit ihrem Kuckucksruf aus dem dunklen Wasser eines Waldsees hervorruft, und gelegentlich reicht auch ein großer Pilz als Schutzraum, unter dem sie sich auf Däumling-Größe geschrumpft verkriechen und vor der Welt verstecken kann.

Kerstin bei einem Bad im Waldsee, wo sie die „große Frau“ trifft.

© reprodukt

Neben diesen Fantasiewelten ist auch die Natur immer wieder ein Refugium, der Wald mit seinen Tieren und Pflanzen dient Kerstin oft als Rückzugsraum. Da wird schonmal ein Kotfladen zwischen den Bäumen zum Portal, durch das die junge Frau einer Version von sich selbst begegnet, die an mehreren Stellen des Buches auftaucht: Als Mischwesen aus Hund und Mensch, das von schmerzhafter Sehnsucht nach der abwesenden Mutter ergriffen ist.

Kratzen, Wischen und Radieren: Die meisten Bilder des Buches sind mit Kohle gezeichnet.

© Reprodukt

Die Bilder Feuchtenbergers sind ähnlich komplex und vielschichtig wie die Handlung, oft bestehen sie aus mehreren Schichten Kohle oder Bleistift, denen die Künstlerin durch Kratzen, Wischen und Radieren eine fast plastische, organische Anmutung gibt. Die Panelaufteilung ist, wie bei Feuchtenberger üblich, in der Regel formal streng: Zwei querformatige Bilder pro Seite, unter und über denen Text steht.

Ein über Jahre gewachsenen Kunstwerk

An vielem Stellen bricht die Künstlerin diesen Look allerdings auf und wechselt zu anderen Stilen, was teilweise mit inhaltlichen Wechseln korrespondiert, an manche Stellen aber auch einfach nach der Lust am Experiment aussieht und vielleicht auch der Tatsache geschuldet ist, dass „Genossin Kuckuck“ über viele Jahre gewachsen ist und auch einige Passagen enthält, die bereits zuvor in Anthologien veröffentlicht worden sind und nun in die Gesamthandlung integriert wurden.

Anke Feuchtenberger ist als Erwachsene an den Ort ihrer Jugend in Mecklenburg-Vorpommern zurückgezogen.

© Wassily Zittel

Ein weiteres visuell prägendes Element ist das Lettering: Dafür hat Feuchtenberger eine eigene Typografie kreiert, die mit ihrer Mischung aus Groß- und Kleinschreibung und leichten Abwandlungen wie einem zusätzlichen Strich beim E wie ein eigener Dialekt wirkt, vertraut und doch sehr eigen.

Mit jedem der 40 Kapitel, von denen einige wenige nur aus Text bestehen, fügen sich neue Facetten zu einem Gesamtbild zusammen. Vieles wird dabei nur angedeutet, aber es wird deutlich, welche traumatischen Erlebnisse hier das Leben der Menschen auf welche Weise prägen, sowohl in Bezug auf Kerstin wie auch auf die sie umgebenden Menschen, die Feuchtenberger mit großen, ausdrucksstarken Charakterköpfen zeichnet.

Eine Orgie im Moorbad

Das ist von einem tiefen Ernst durchzogen, allerdings gibt es auch immer wieder Szenen, die bei der Lektüre auflachen lassen. Zum Beispiel ein winterliches Dorffest, bei dem die Feiernden allesamt Schweinsmasken tragen. Das Fest endet dank einer außer Kontrolle geratenen Eislauf-Vorführung in einem turbulenten Fiasko. Auch wie Feuchtenberger die fast religiöse Verehrung sozialistischer Vorbilder und die immer wieder beschworene „höhere Gesellschaftsordnung“ aufgreift, die in hartem Kontrast zur hier gezeigten Realität steht, ist stellenweise sehr komisch.

Einen grimmigen Witz vermitteln zudem mehrere Szenen, in denen realistische Elemente und Surrealistisches miteinander verschmelzen. Die bedrohliche Atmosphäre eines Kinderheims, das in der Geschichte eine wichtige Rolle spielt, wird durch überdrehte Horror-Elemente und Comedy-Einsprengsel aufgelockert. Und ein Altenheim, dessen Bewohner im Moorbad wilde, an eine außer Kontrolle geratene Orgie erinnernde Rituale praktizieren, wird zum absurd-apokalyptischen Tollhaus.

Anke Feuchtenberger: „Genossin Kuckuck – Ein deutsches Tier im deutschen Wald“, Reprodukt, 448 Seiten, 44 Euro.

© Reprodukt

Viele Szenen erschließen sich vollständig allerdings erst bei der zweiten Lektüre. Dann fügen sich die vielen anfangs teils disparat wirkenden Einzelteile von „Genossin Kuckuck“ zu einem beeindruckenden Gesamtkunstwerk zusammen, das sich Ende dieses Jahres ganz zu Recht auf vielen Bücher-Bestenlisten wiederfinden dürfte.

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