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Schiedsrichtern zeigt man besser keine Zeitlupen von Fouls. Sie entscheiden dann unbewusst meist härter als ohne das technische Hilfsmittel. Am 14. Spieltag der vergangenen Bundesliga-Saison zeigte Referee Robert Hartmann Leverkusens Wendell (l.) die rote Karte, nachdem er sich den Videobeweis angesehen hatte.

© Bernd Thissen/dpa

Kognitionsforschung: Zeitlupe lässt Schiedsrichter strenger entscheiden

Unparteiische, die sich ein Foul noch einmal verlangsamt ansehen, zücken öfter die Rote Karte. Der Grund: Die Technik verändert ihre Wahrnehmung.

Auf einer Liste der abgedroschensten Phrasen von Fußballkommentatoren dürfte eine nicht fehlen: "Wir haben hier die Zeitlupe, diesen Luxus hat der Schiedsrichter nicht." Zwar hört man sie seit der Einführung des Videobeweises seltener, nun aber stellt sich heraus, dass sie – zumindest wenn es um die Bestrafung eines Foulspiels geht – schon immer falsch gewesen sein könnte.

Bei der Fußball-WM in Russland wird der Videobeweis erstmals bei einem solchen Turnier zum Einsatz kommen. Die Video-Schiedsrichter sollen in vier Spielsituationen eingreifen können: bei einem Tor, bei einer Abseitssituation, wenn der Schiedsrichter aus Versehen den falschen Spieler bestraft. Und bei einer Roten Karte. Zwischen diesen Situationen aber gibt es einen Unterschied. Ob der Ball die Torlinie überquert hat oder der Stürmer im Moment des Passes im Abseits stand, sind objektive Entscheidungen: Die Antwort heißt ja oder nein. Bei der Roten Karte ist das anders. In vielen Fällen zücken die Unparteiischen sie aufgrund eines Foulspiels.

Begutachten Video-Schiedsrichter solche Situationen noch einmal in Zeitlupe, müssen sie zweierlei subjektiv bewerten. Erstens: War es ein Foul? Zweitens: Geschah es aus Absicht? Dabei führt die Zeitlupe offenbar dazu, dass Schiedsrichter strenger urteilen, wie Wissenschaftler im Fachblatt "Cognitive Research: Principles and Implications" schreiben.

88 Schiedsrichter, 60 Spielszenen – ein einzigartiges Experiment

Dafür unterzogen Jochim Spitz und seine Kollegen von der belgischen Universität Leuven 88 europäische Top-Schiedsrichter einem bisher einzigartigen Experiment. Sie zeigten den Unparteiischen 60 Spielszenen, in denen ein Spieler Foul spielte. Eine Hälfte der Referees bekam die Szenen in Echtzeit gezeigt, die andere in Zeitlupe. Dann sollten sie entscheiden: Würden sie das Spiel weiterlaufen lassen, auf Foul entscheiden, oder Gelb oder Rot zücken? Vorher mussten Referenzwerte für jede Situation festgelegt werden. Dafür beurteilten zwei erfahrene Ex-Schiedsrichter die Spielsituationen nach den FIFA-Regeln. Sie durften die Aktionen mehrfach anschauen und kannten auch die Entscheidungen, die die Unparteiischen in der Realität getroffen hatten.

Anders die Schiedsrichter, die an dem Versuch teilnahmen: Sie durften die Szenen nur ein einziges Mal sehen und mussten sich danach innerhalb von zehn Sekunden entscheiden. Dabei lagen diejenigen, die die Situationen in Echtzeit anschauten, und die Zeitlupen-Gruppe gleichauf, was die Entscheidung Foul/ kein Foul anbelangte. In etwa 60 Prozent der Fälle stimmten sie mit der Referenz überein.

Unterschiede gab es allerdings in der Art der Bestrafung. So bewerteten Schiedsrichter, die die Fouls in Zeitlupe gesehen hatten, Situationen deutlich strenger als Referees aus der Echtzeit-Gruppe. Die Zeitlupen-Gucker gaben seltener Gelbe oder gar keine Karten, stattdessen griffen sie öfter zu Rot.

Die Zeitlupe verändert die Wahrnehmung

Die Forscher erklären sich den Befund damit, dass sich die Wahrnehmung, wie lange eine Aktion dauert, verändert, wenn man sie in Zeitlupe anschaut. Sehen die Schiedsrichter eine Szene langsamer, schreiben sie dem foulenden Spieler unterbewusst zu, mehr Zeit für seine Entscheidung gehabt zu haben, zur Grätsche anzusetzen. Das verleite die Unparteiischen dazu, den Spielern Absicht zu unterstellen – mit der Konsequenz einer härteren Bestrafung.

Das Phänomen ist bereits aus einem anderen Kontext bekannt. Auch in Gerichtssälen wird immer wieder Zeitlupe eingesetzt, etwa Aufnahmen von Überwachungskameras. Wissenschaftler konnten zeigen, dass, wenn Menschen solche Szenen in Zeitlupe sahen, sie den Tätern mehr Vorsatz unterstellten, als wenn sie das Video in Echtzeit sahen. Jurys, denen nur die Zeitlupe vorgespielt wurde, verhängten im Experiment viermal so oft das Urteil Mord wie solche, die beide Versionen gesehen hatten.

Um menschliche Absichten einzuschätzen, sei die Technik nicht geeignet

Spitz' Studie ist erst die zweite Arbeit, die den Einfluss der Zeitlupe auf die Entscheidung bei Fouls untersucht. Vor einem Jahr prüfte er ihren Einfluss der Technik bei Eckballsituationen. Durch das Gewusel im Strafraum ist es dabei für Referees oft schwer, den Überblick zu behalten, wer wen zuerst schiebt. Durch die Zeitlupe konnten sie häufiger richtig entscheiden, ob ein Foul vorlag oder nicht und von wem es ausging.

"Die Wiedergabe in Zeitlupe kann deutlich machen, wer ein Foul verursacht hat, ob es einen Kontakt gegeben hat oder ob eine Situation innerhalb oder außerhalb des Strafraums war", sagt Spitz. "Menschliche Emotionen einzuschätzen, etwa ob ein Foul aus Vorsatz geschah, ist aber etwas ganz anderes." Die Forscher folgern, dass die Zeitlupe keine adäquate Methode ist, um den Grad der Bestrafung nach einem Foul zu bewerten. Sie fordern ein spezielles Training für die Video-Schiedsrichter sowie die fraglichen Szenen nur in Echtzeit laufen zu lassen. Der "Luxus" Zeitlupe wäre damit wieder passé.

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