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© Forschungszentrum Jülich/Markus Axer and Katrin Amunts

Zehn Jahre „Human Brain Project“: Die Vision vom virtuellen Gehirn

Das zehnjährige „Human Brain Project“ endete 2023. Die Forscher hatten ein ambitioniertes Ziel: Sie wollten das komplexe menschliche Gehirn vollständig simulieren. Was sie stattdessen erreicht haben.

Von Alice Lanzke, dpa

Vor zehn Jahren startete mit dem Human Brain Project eines der ambitioniertesten Forschungsvorhaben Europas. In dem Projekt sollte eine komplette Computersimulation des menschlichen Gehirns gebaut werden.

Das wurde zwar in der zehnjährigen Laufzeit nicht erreicht, dafür entstanden aber eine umfangreiche Forschungsplattform sowie neue Therapieansätze.


607 Millionen für eine ambitionierte Ankündigung

Treibende Kraft des Vorhabens war zu Beginn Henry Markram. Der Neurowissenschaftler an der École Polytechnique Fédérale de Lausanne hatte schon 2009 bei einer Fachkonferenz verkündet, binnen zehn Jahren werde es möglich sein, die 86 Milliarden Neuronen und noch deutlich mehr Synapsen des Gehirns auf einem Supercomputer mathematisch zu simulieren. Das wollte er mithilfe eines enormen Verbundprojektes erreichen, dem Human Brain Project (HBP).

Mit seinem Charisma gelang es ihm nicht nur, Hunderte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um sich zu scharen, sondern auch die EU-Kommission dafür zu gewinnen, das HBP als eines von zwei europäischen Flaggschiffen der Forschung auszuwählen. Mit der Aussicht auf eine Förderung von einer Milliarde Euro nahm das HBP am 1. Oktober 2013 seine Arbeit auf. Am Ende erhielt es 406 Millionen Euro aus EU-Mitteln und 201 Millionen Euro durch Beiträge der Institutionen und Mitgliedsländer.

Menschlicher Hirnschnitt im Spezialmikroskop zur Darstellung von Nervenfasern

© Forschungszentrum Jülich/Mareen Fischinger


Ein Streit: Das Gehirn sei zu komplex für einfache Simulationen

Gleich zu Beginn war das Projekt heftiger Kritik ausgesetzt. 2014 bemängelten Hunderte Forschende in einem offenen Brief an die EU, das HBP sei methodisch zu eng fokussiert. Dieser Vorwurf entzündete sich auch an dem Umstand, dass das dreiköpfige HBP-Leitungsteam um Markram vorhatte, ein für die 2016 beginnende Projektphase vorgesehenes Teilprojekt zur „kognitiven Architektur“ des Gehirns ersatzlos zu streichen.

Darüber hinaus wurde in dem offenen Brief kritisiert, dass die Mittelverteilung intransparent und die Versprechen des HBP unrealistisch seien – Vorwürfe, die der Neurobiologe Andreas Herz von der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität teilt: „Abgesehen von den überzogenen Fantasien des HBP ist ein hierarchisch organisiertes Großprojekt mit einem einzigen konzeptionellen Ansatz gerade in den Neurowissenschaften zum Scheitern verurteilt: Das Gehirn ist zu komplex, als dass man mit einem Kamm, der über alles wegschert, erfolgreich sein könnte.“

Die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen sind der Meinung, dass es einen breiteren Ansatz braucht, um das Gehirn zu verstehen.

HBP-Direktorin Katrin Amunts vom Institut für Neurowissenschaften und Medizin am Forschungszentrum Jülich

Nach einer Mediation mit mehreren Schlichtern, zu denen auch Herz gehörte, legte das von Markram angeführte Exekutivkomitee 2015 die Leitung nieder, das HBP-Direktorium übernahm provisorisch die Führung. Zudem kam es zu einer inhaltlichen Verschiebung, wie Herz beschreibt: „HBP wurde fortan primär als ein Infrastrukturprojekt und nicht als Forschungsprojekt verstanden.“ Dadurch habe es allerdings auch keine Fokussierung auf ein gemeinsames Themengebiet gegeben, so Herz. Er vermisst einen klaren roten Faden bei der Ausrichtung der HBP-Projekte, ohne damit die Qualität der einzelnen Anstrengungen infrage zu stellen.


Trotz Streitereien lieferte das HBP beachtliche Ergebnisse

Tatsächlich listet das Projekt eine Reihe beeindruckender Ergebnisse auf. So entwickelten HBP-Forschende aus Italien und Belgien eine Methode, mit der das Bewusstsein in nie dagewesener Empfindlichkeit beurteilt werden kann – wichtig für Menschen, die nach schweren Hirnverletzungen nicht ansprechbar sind und als bewusstlos eingestuft werden.

Eine HBP-Gruppe aus Frankreich stellte zudem personalisierte Gehirnmodelle von Menschen mit Epilepsie vor, die auf Medikamente nicht ansprechen. Derartige virtuelle Modelle helfen dabei, jene Hirnregionen zu identifizieren, in denen Anfälle auftreten. Nach HBP-Angaben läuft derzeit eine klinische Studie mit 400 Teilnehmenden und dem Ziel, Chirurginnen und Chirurgen ein präzises Instrument an die Hand zu geben, mit dem sie bessere Operationsentscheidungen treffen können.

Eine niederländische HPB-Forschungsgruppe fertigte zudem ein Hirnimplantat, das den visuellen Kortex des Gehirns mit hoher Präzision elektrisch stimuliert. Ein Schweizer Team entwickelte neuronale Implantate, die das Rückenmark stimulieren, um querschnittgelähmten Menschen das Stehen und Gehen wieder zu ermöglichen.

Wissenschaftler beim Zerschneiden eines menschlichen Gehirns.

© Forschungszentrum Jülich/Mareen Fischinger

Wieder andere Forschungsgruppen erzielten Erfolge in den Bereichen Künstliche Intelligenz und Robotik. Bemerkenswert ist nicht zuletzt der 2020 publizierte Gehirnatlas „Julich-Brain“: eine Art Google Maps, in dem für 200 Areale des menschlichen Gehirns Karten in noch nie dagewesener Detailgenauigkeit erstellt wurden. Dafür wurden über 24.000 hauchdünne Schnitte der Gehirne von 23 Verstorbenen digitalisiert und dreidimensional aufbereitet.

Plattform Ebrains als Schatztruhe für Neurowissenschaftler

Insgesamt veröffentlichten die mehr als 500 Forschenden von über 150 Institutionen aus 19 Ländern in der zehnjährigen Laufzeit mehr als 3000 Arbeiten. Zudem wurden über 160 digitale Werkzeuge entwickelt, die sich neben Tausenden Datensätzen in der ebenfalls entstandenen Plattform Ebrains finden. Diese Plattform, die Simulationen und digitale Experimente erlaubt, kann mittlerweile als eine Art Herzstück des HBP bezeichnet werden.

„Mit Ebrains wurde etwas Einmaliges geschaffen – eine Plattform, die von Hunderten Mitwirkenden entwickelt und befüllt wurde und deren Infrastruktur von fünf europäischen Supercomputerzentren bereitgestellt wird“, kommentiert Petra Ritter von der Berliner Charité. „Damit gibt es einen Ort für die neurowissenschaftliche Community, wo sowohl Basisdienste als auch Tausende Tools und Datensätze auffindbar sind.“ Die seien zudem integriert angelegt: „Das heißt, dass digitale Atlanten, aber auch Datensätze von Gehirnen und Forschungsergebnisse alle nach bestimmten Standards aufbereitet und damit wiederverwendbar und miteinander verbindbar gemacht wurden.“

Auch Herz erklärt: „Ebrains hat prinzipiell das Potenzial, einen leicht zugänglichen Korpus an Daten und Tools zur Analyse und Modellierung aufzubauen, und damit auch die Reproduzierbarkeit von Experimenten voranzutreiben. Bis Ebrains von der Wissenschaftsgemeinde akzeptiert und wie selbstverständlich genutzt wird, sind jedoch noch viele Hürden zu überwinden.“

Um das Gehirn zu verstehen, braucht es einen breiteren Ansatz

Die wiederkehrende Kritik am Projekt erklärt HBP-Direktorin Katrin Amunts vom Institut für Neurowissenschaften und Medizin am Forschungszentrum Jülich damit, zu Beginn sei der Simulationsansatz überbetont worden: Das habe dem HBP nicht geholfen. „Die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen sind der Meinung, dass es einen breiteren Ansatz braucht, um das Gehirn zu verstehen.“

Zudem sei der Einsatz von digitalen Methoden in der Neurowissenschaft vor zehn Jahren eher unüblich gewesen. „Was wir mit dem Human Brain Project geschafft haben, ist, diese digitale Hirnforschung voranzubringen – nicht um das Nasslabor zu ersetzen, sondern um es zu ergänzen.“ Insbesondere Werkzeuge der Hirnforschung seien dadurch vorangekommen.


Geschlossener Club und auch eher ein Männerclub

Charité-Expertin Ritter sieht eine Herausforderung bei Flaggschiff-Projekten darin, dass sie von außen als „geschlossene Clubs“ angesehen werden könnten, die über Jahre große Fördersummen erhalten: „Die demokratischen Kontrollmechanismen und Prozesse müssen für solche Großprojekte gut durchdacht sein, um sicherzustellen, dass die Community sich eingeschlossen und über zehn Jahre beteiligt fühlt.“

Eine weitere Herausforderung, die den akademischen Bereich weltweit betreffe, sei die Diskriminierung von Frauen, führt Ritter an: „Noch immer sind Frauen bei der Besetzung von wichtigen Positionen und Gremien mit Entscheidungsbefugnis benachteiligt. Das Science and Infrastructure Board – also das Gremium, das im Prinzip den Fahrplan für das HBP entwickelt – besteht beispielsweise aus zwei Frauen und zwölf Männern.“ Dieses Thema brauche mehr Aufmerksamkeit und fundierte Maßnahmen, so Ritter.

Ebrains soll übrigens weiterlaufen – im Rahmen von Espri, dem Europäischen Strategieforum für Forschungsinfrastrukturen. So wurde Ebrains 2021 in die Espri-Roadmap aufgenommen. „Das hat zur Folge, dass in den kommenden Jahren und ohne vorgegebenes Ende Forschungsgelder dafür zur Verfügung gestellt werden“, so Ritter. „Und zwar nicht als jährliche Zahlungen an Ebrains, sondern in Form von Ausschreibungen, auf die sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Ebrains als Partner bewerben können.“

Charité-Forscherin Ritter fasst zusammen: „Ebrains ist sozusagen die Speerspitze der Digitalisierungsentwicklung in den Lebenswissenschaften, die sicherlich mit Geburtswehen einherging.“ Diese seien bei der Schaffung von etwas Neuem allerdings erwartbar: „Da werden auch mal falsche Pfade eingeschlagen, sodass man wieder zurückgehen muss.“

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