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Kohlenstoffneutrale Städte zu schaffen, ist eine der „sozialen Kippinterventionen“, mit denen der Klimawandel gestoppt werden kann, meinen Forscher. In Berlin würde dann etwa das Kraftwerk Ruhleben umdenken.

© Robert Schlesinger dpa/lbn

Forscher definieren sechs „Kippinterventionen“: Wie die Trendwende im Kampf gegen den Klimawandel gelingt

Potsdamer Forscher beschreiben, was die Gesellschaft ändern muss, damit der CO2-Ausstoß bis 2050 auf Null sinkt. Etwa: kohlenstoffneutrale Städte schaffen.

Bestimmte gesellschaftliche Trendwenden in den Bereichen Energie, Finanzwelt und Bildung könnten helfen, die international vereinbarten Klimaschutzziele bis 2050 noch zu erreichen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Forschungsgruppe unter Führung des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, die im Fachblatt "PNAS" jetzt sechs solche „Kippinterventionen“ benennt.

1. Energieerzeugung

Hier müsste der Trend weg von fossilen Brennstoffen gehen. Dabei ist vor allem die Politik gefordert: 2015 waren die Subventionen für Kohle, Erdöl und Erdgas noch mehr als doppelt so hoch wie die Subventionen für erneuerbare Energien. Außerdem empfehlen die Forscher einen Umbau der Energieversorgung von zentralen Kraftwerken hin zu dezentraler Energiegewinnung, etwa durch Solar- und Windkraft.

2. Städte

Direkte und indirekte Emissionen von Gebäuden summieren sich weltweit zu 20 Prozent des Treibhausgasausstoßes. Die Wissenschaftler schlagen große Demonstrationsprojekte vor, in denen auch klimafreundliches Bauen gezeigt werden könnte. So könne ein großes Gebäude, das zu 80 Prozent aus laminiertem Holz errichtet werde, Tausende Tonnen Kohlendioxid (CO2) vermeiden. Auch in der öffentlichen Infrastruktur von Städten besteht den Forschern zufolge ein großes CO2-Einsparpotenzial.

3. Finanzsystem

Wenn Investoren befürchten müssten, dass sich ihr Engagement bei fossilen Brennstoffen nicht mehr rentiert, könnten sie ihre Gelder aus dieser Branche abziehen. „Simulationen zeigen, dass nur neun Prozent der Investoren das System kippen könnten, was andere Investoren dazu veranlasst, dem zu folgen“, schreiben die Forscher. Es gebe bereits Anzeichen für einen Wendepunkt, nämlich Kürzungen bei der finanziellen und versicherungstechnischen Unterstützung von Kohleprojekten.

4. Normen und Werte

Die Gewinnung und Nutzung fossiler Brennstoffe, die nicht im Einklang mit dem Ziel des Pariser Klimaabkommens sei, die Erderwärmung auf deutlich unter zwei Grad zu begrenzen, ist den Forschern zufolge „wohl unmoralisch“. Denn solches Handeln verursache weitestgehend schwerwiegende und unnötige Schäden. „Das Bewusstsein für die globale Erwärmung ist hoch, aber die gesellschaftlichen Normen zur grundlegenden Veränderung des Verhaltens sind es nicht“, wird Co-Autor und PIK-Direktor Johan Rockström in einer Mitteilung seines Instituts zitiert. Dies gelte es zu ändern: Längerfristig sei wohl „ein neues soziales Gleichgewicht erforderlich, in dem der Klimaschutz als soziale Norm anerkannt wird.“

5. Bildungssystem

„Nachhaltigkeit kann nicht auferlegt werden, sie muss gelernt werden“, schreiben die Studienautoren. Deshalb plädieren sie dafür, in deutlich höherem Maße als heute eine umwelt- und klimabewusste Lebensweise in den Schulunterricht einzubeziehen. Qualitativ hochwertige Bildung unterstütze und erweitere Normen und Werte und könne schnell zu Verhaltensänderungen bei Einzelpersonen und ihren Kohorten führen, betonen die Wissenschaftler. ·

6. Verbraucherinformation

Wichtig für einen gesellschaftlichen Wandel sind nach der Einschätzung der Forscher auch Informationen für die Verbraucher. Unter den analysierten Vorschläge waren auch Angaben über den Ausstoß von Treibhausgasen zur Herstellung eines Produkts auf jeder Packung, ähnlich wie die Nährwertangaben bei Lebensmitteln. „Es sollte den Menschen einfach gemacht werden, einen klimaneutralen Lebensstil zu führen“, sagt Rockström.

„Wie ein Skifahrer, der eine Lawine auslöst“

Für Andreas Ernst von der Universität Kassel, selbst nicht an der Studie beteiligt, sind die „Social Tipping Interventions“ ein sehr guter Weg, den Blick auf die gesellschaftlichen Möglichkeiten des Umsteuerns zu richten. Mit Geschick an der richtigen Stelle platzierte Maßnahmen könnten umfassende Erfolge bei der Bewältigung der Klimaerwärmung haben. „Wie etwa ein einzelner Skifahrer eine gewaltige Lawine auslösen kann“, sagte der Professor für Umweltsystemanalyse und -psychologie.

Zwar seien die in der Studie vorgestellten Ansatzpunkte an sich nicht neu, sagte Ernst. „Neu ist die Hypothese, dass es mit bestimmten, eleganten Interventionen gelingt, großflächige Veränderungen auszulösen.“ Politische und wirtschaftliche Machtfragen als wesentliche Beharrungsfaktoren blende die Studie aber völlig aus.

Maria Daskalakis vom Institut für Volkswirtschaftslehre der Universität Kassel gibt zu bedenken, dass es eines fachübergreifenden Ansatzes bedürfe, um der Komplexität der Themenstellung gerecht zu werden. „Die Idee, es gäbe einige wenige soziale Kippelemente beziehungsweise -interventionen, mit denen das Ruder herumgerissen werden könnte, scheint mir hier nicht zielführend.“

Sie empfiehlt einen sehr vorsichtigen Umgang mit den Ergebnissen beziehungsweise deren Generalisierung und der Ableitung von Maßnahmen. (dpa)

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