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Ein Porträtbild von Jan-Martin Wiarda.

© Privat

Wiarda will’s wissen: Das Abitur wird nicht entwertet

Das Abitur ist besser als sein Ruf. Schlechtgeredet wird es von besorgten Akademiker-Eltern und anderen Verschwörungstheoretikern, meint unser Kolumnist.

Wie schön, wenn wir uns in unseren Vorurteilen bestätigt fühlen. Immer mehr Leute machen Abitur, hören wir, die Ausbildungsbetriebe verwaisen, dafür laufen die Unis über. Das kann nicht gut gehen, denken wir, und tatsächlich findet sich immer irgendein Professor, der sagt: Die Schulabgänger können nicht mehr richtig schreiben. Rechnen können sie auch nicht, flucht ein Ausbildungsleiter über die ihm verbliebenen Azubis. Und ein Lehrer stimmt ein: Guckt euch die Noten an. Bald kriegt jeder für alles eine Eins.

Spätestens dann raunt jemand von einem Komplott: Die Politik habe auf Drängen des Industriestaaten-Klubs OECD unser Bildungssystem der Verflachung preisgegeben. Hauptsache, die Zahl der Abiturienten steigt, winkt jeden durch, dann ist die internationale Wirtschaftslobby zufrieden – während die deutsche Wirtschaft leidet. Das Abi für alle ist das Ende fürs Abi?

Deutsche Schüler sind heute besser in Mathe als vor 15 Jahren

Zeit für ein paar Fakten, die irritieren. Schulleistungsstudien wie Pisa zeigen, dass deutsche Schüler im Schnitt heute besser in Mathe oder Deutsch sind als vor 15 Jahren. Und obwohl anderthalbmal so viele junge Leute studieren vor einem Jahrzehnt, sind die (zu hohen!) Bachelor-Abbrecherquoten kaum gestiegen. Selbst die vermeintliche Noteninflation ist seit Jahren eine homöopathische: Von 2015 auf 2016 etwa verbesserte sich der bundesweite Abischnitt um sage und schreibe 0,01. Unterdessen liegt die Arbeitslosigkeit unter Akademikern niedrig wie nie.

Kurzum: Abitur und Studium eröffnen mehr jungen Leuten als je zuvor die Aussicht auf sichere Jobs und gute Bezahlung, während die Betriebe – der wahre Grund für den Azubi-Mangel – es versäumt haben, die Ausbildung attraktiver zu machen. Soviel zum angeblichen Komplott.

Angst der Akademiker-Eltern vor den Entwertwertung des Abiturs

Die Wurzeln der Debatte ums Abitur liegen denn auch woanders. Da sind zum einen die Akademikereltern, die das Abitur ihrer Kinder entwertet sehen, wenn so viele andere plötzlich auch den Abschluss machen. Wie soll man sich noch herausheben aus der Masse? Und dann sind da die traditionsbewussten Studienräte an den Gymnasien, konfrontiert mit Jugendlichen, die sich so anders ausdrücken als die ihnen vertrauten Bildungsbürgerkinder. Wie einfach ist es, diesen Habitus mit mangelnder Eignung gleichzusetzen, zu sagen: Die gehören nicht hierher. Und dabei auszublenden, wie viele Akademiker ihre Kinder seit Generationen mithilfe von Nachhilfelehrern Richtung Abi pauken.

Sehr viel mehr Studierende, darunter auch leistungsschwächere

Und an den Unis? Nie gab es so viele leistungsstarke Studierende wie heute. Aber natürlich, wenn es insgesamt so viel mehr Studenten sind, gibt es auch mehr leistungsschwächere – was über die Qualität der Schulen rein gar nichts aussagt, sondern ein trivialer Effekt ist. Und wenn viele Erstsemester ihre Profs zum Stöhnen bringen, weil sie die Orientierung verlangen, die ihnen ihre Eltern nicht geben können: Macht sie das zu Studenten mit dem geringeren Potenzial?

Einfache Erklärungen mögen befriedigen. Wir aber sind es den jungen Leuten schuldig, nicht auf sie hereinzufallen.

Der Autor ist Journalist für Bildung und lebt in Berlin. Auf seinem Blog www.jmwiarda.de kommentiert er aktuelle Ereignisse in Schulen und Hochschulen.

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