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Corona-Demonstrantin.

© dpa

Wenn die Freiheit kippt: Gegen die Gesellschaft im Namen ihrer Werte

In ihrem Werk „Gekränkte Freiheit“ gehen die Soziolog:innen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey dem neuen Phänomen des libertären Autoritarismus auf den Grund.

Das Pathos der Freiheit hat in unseren Zeiten mitunter eine aggressive Form angenommen: Vor Wut schäumende Intellektuelle inszenieren sich öffentlich als letzte Advotkat:innen der Freiheit gegen angebliche Meinungsmonopole. Hasserfüllte Hippies lehnen Seuchenschutzmaßnahmen als diktatorische Zumutung ab und halten ihre bauchgefühlte Querdenker-Wahrheit dem Wissen der Forschung entgegen. Antidemokratische „Widerständler:innen“ meinen ihre Freiheit gegen „die Eliten“ und gegen Migrant:innen verteidigen zu müssen.

Nun war Freiheit schon immer ein schillernder Begriff, der, mit verschiedenen Vorzeichen versehen, auch gegensätzlichen politischen Projekten als handlungsleitendes Motto dienen konnte. Bürgerliche, ebenso wie linke Akteure meinen seit jeher für die Freiheit zu streiten.

In der Gegenwart aber scheint sich immer häufiger ein regelrechter Freiheitsextremismus zu gebärden. Das autarke Individuum geht in dieser Weltsicht den Dingen gekonnt alleine auf den Grund, für sein sektiererisches Sonderbewusstsein braucht es keine akademische Belehrung. Jede gesellschaftlich gebotene Beschränkung, etwa Rücksichtname auf vulnerable Gruppen, wird als eklatante Zumutung erlebt – und mit mindestens rhetorischer Gewalt kompensiert.

Die Spätmoderne als Enttäuschungsgenerator

Wer wissen will, was es mit dieser exzessiven Form des individualistischen Freiheitsmodells auf sich hat, sollte das Buch „Gekränkte Freiheit – Aspekte des libertären Autoritarismus“ von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey lesen. Der Professor für Sozialstrukturanalyse an der Universität Basel und die an der gleichen Hochschule lehrende Literatursoziologin begreifen die auf den ersten Blick paradox anmutende Verbindung aus Freiheit und Autoritarismus als ein morbides Symptom neoliberaler Vergesellschaftung: „Der libertär-autoritäre Protest richtet sich gegen die spätmoderne Gesellschaft, rebelliert aber im Namen ihrer zentralen Werte: Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung.“

Die durch eine fortschreitende Singularisierung der Gesellschaft und den neoliberalen Raubbau an sozialstaatlichen Errungenschaften geprägte Spätmoderne erweise sich mit ihren meist uneinlösbaren Freiheits- und Selbstverwirklichungsversprechen als systematischer Enttäuschungsgenerator. Die formale Freiheit stößt auf faktische Grenzen; radikal gekränkt flieht sie wütend nach vorne und fordert sich selbst in exzesshafter Gestalt. Sie „verdingliche“ sich radikal, so Amlinger und Nachtwey: Zur Freiheit eines kompetitiven Konsums.

Die neue Mitsprache der vormals Marginalisierten rufe bei den Besitzstandswahrern von Privilegien oft aversive Gefühle hervor, sagen Amlinger und Nachtwey.

© imago images/Addictive Stock

Man bestreite ihre institutionellen Bedingungen, verleugne, dass Freiheit in Gesellschaft geschieht – diese werde folglich als „privater Besitzstand“ und nicht mehr als „gesellschaftlicher Zustand“ begriffen. Zugespitzt formuliert sind die libertär-autoritären Charaktere, die Amlinger und Nachtwey empirisch erforschen und als Subjektform theoretisch konturieren, die vom Neoliberalismus gerufenen Geister, die dieser nun nicht mehr einzufangen weiß.

Regressive Coping-Strategien

Dabei geht es den beiden keineswegs nur um die vielfältigen regressiven Coping-Strategien, mit denen einige, doch keineswegs alle Menschen auf die Unbill der Spätmoderne reagieren. Sie befassen sich genauso mit den Zumutungen selbst, mit den Nebenwirkungen der Modernisierung, dem im Fortschritt oft enthaltenen Keim der Regression, der bedingt, dass die Freiheit in ihr Gegenteil ausschlägt. So bietet „Gekränkte Freiheit“ weit mehr als ein bloß soziologisch fundiertes Psychogramm der von links nach rechts driftenden Querdenkerin; oder des „gefallenen Intellektuellen“, der den Schmerz des Verlusts von Diskursprivilegien durch den Kampf gegen Gendersternchen kompensiert.

Auf den Spuren der Frankfurter Schule und im Anschluss an jüngere Zeitdiagnosen, von Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ bis Andreas Reckwitz‘ „Gesellschaft der Singularitäten“, wollen Amlinger und Nachtwey nicht weniger hervorbringen als den großen gesellschaftstheoretischen Wurf. Und ohne Frage lässt sich die verworrene Gegenwart durch ihre Arbeit besser verstehen.

Demonstranten halten ein Schild mit der Aufschrift "Ich bin gesund, aber mein Staat ist krank" hoch.
Der Anspruch, selber zu denken, stößt sich heute ständig am Nicht-Wissen-Können. Dieses gerät zur narzisstischen Kränkung, die durch Wirklichkeitsverleugnung kompensiert wird.

© imago images/Steffen Schellhorn

„Gekränkte Freiheit“ jedoch ist kein Buch für zwischendurch, sondern eines, bei dem man sich Notizen machen muss. Vor allem die ersten Kapitel zur Kritischen Theorie und der klassischen Autoritarismus-Analyse wirken an manchen Stellen etwas überpackt; man würde das Buch gerne zu Weihnachten verschenken, fürchtet aber, dass die Verwandten hier schon aussteigen. So wäre es sehr zu begrüßen, wenn die beiden Soziolog:innen in naher Zukunft einen verschlankten Amlinger/Nachtwey für die Gesäßtasche hinterherschieben würden.

Die formale Freiheit stößt an faktische Grenzen

Was wiederum deshalb recht schwierig sein dürfte, da es sich die beiden nicht einfach machen wollen. Sie liefern keine monokausalen Erklärungen. Die Zumutungen des spätmodernen Kapitalismus sind derart vielfältig, dass sie sich nicht leicht auf den Begriff bringen lassen. Da ist die Unsicherheit durch Prekarisierung, das Paradox so frei zu sein wie noch nie, und gleichzeitig überall an Grenzen zu stoßen – das Versprechen an alle, sich entfalten zu können, bei maximal ungleicher Ressourcenverteilung.

Ferner der oft uneinlösbare Anspruch, zugleich beruflich erfolgreich sein und sich selbst auch noch verwirklichen zu müssen, was bei vielen das Gefühl befördere, am Leben irgendwie gescheitert zu sein – und nicht nur Erschöpfungsdepressionen bedinge, wie der Soziologe Alain Ehrenberg meinte, sondern auch Groll und Ressentiment.

Die Gleichzeitigkeit verschiedener Wertordnungen, oft wirksam in ein und demselben Subjekt, erzeuge mitunter eine affektive Spannung. Zudem seien viele von dem Widerspruch geplagt, kritisch, wissend und gebildet sein zu sollen und doch ständig Expert:innen vertrauen zu müssen, die einem Pandemie und Klimakrise kindgerecht erklären. Die Selbsterzählung der Souveränität bricht sich so am eigenen Nicht-Wissen-Können, das zur ständigen narzisstischen Kränkung gerät.

Nicht zuletzt die progressive Umwertung der Werte, die Mitsprache ehedem Marginalisierter, rufe bei den vormals Privilegierten oft aversive Affekte hervor. Amlinger und Nachtwey zeigen, wie diese unterschiedlichen und zuweilen ineinander verwobenen Zumutungen in verschiedenen sozialen Milieus jeweils spezielle Reaktionen provozieren.   

Gestern progressiv, heute autoritär

Dabei arbeiten sie gleichzeitig minutiös heraus, wie der allgemeine gesellschaftliche Wandel gestern noch als fortschrittlich geltende Werte in autoritärer Weise aufladen kann. So werde zum Beispiel der „Universalismus“ heute oft von konservativen Akteuren gegen Identitätspolitiken profiliert. Und die ehedem machtkritische Wissenschaftsskepsis sowie der postmoderne Angriff auf die objektive Wahrheit münden in „Gegen-Epistemologien“ und verschwörungsideologische Wirklichkeits-Verleugnung.

Die bei den 68ern noch gesellschaftlich gedachte Selbstverwirklichung schließlich ist unter den Bedingungen der Spätmoderne zum Selbstveredlungsprogramm depraviert. „Im Zuge der Ungleichzeitigkeiten regressiver Modernisierung verrücken, verschieben oder durchkreuzen sich die Register der Kritik. Sie können politisch anders aufgeladen und neu miteinander verknüpft werden.“ Mit ihrer Dialektik der negativen Freiheit bieten die Soziolog:innen Amlinger und Nachtwey einen umfassenden Erklärungsansatz für zeitgenössische Querfront-Phänomene. Für vormalige Linksintellektuelle, die sich von Minderheiten terrorisiert fühlen ebenso, wie für sich fortschrittlich wähnende Ökoesoteriker, die an die jüdische Weltverschwörung glauben.

Psychodynamik des Autoritarismus

Mit dem Zeitenwandel vollziehe sich somit eine „Psychodynamik des Autoritarismus“. Der klassische-autoritäre Charakter, den Theodor W. Adorno erforschte, kompensierte die erfahrene Machtlosigkeit im engen Korsett der verwalteten Moderne durch die Bindung an dominante Führungsfiguren. Der „libertäre Autoritäre“ hingegen verschreibe sich nur noch der „Imago der Freiheit“. Fremde Autoritäten lehnt er ab. Ressentiment und Überlegenheitswahn, sowie die radikale Trennung in Gutes und Böses aber eignen diesem wie jenem.

Zentrale Akteure der Kritischen Theorie: Max Horkheimer und Theodor W. Adorno.

© Jeremy J. Shapiro/CC BY-SA 3.0

Amlinger und Nachtwey haben auf Basis theoretischer Vorannahmen und einer großen Umfrage sowie qualitativen Interviews mit Menschen aus dem Querdenken-Umfeld eine neue Sozialfigur profiliert. Ihr großes Werk ist indes nur ein erster Aufschlag. Die Theorie gilt es fortan empirisch zu fundieren. Dass viele der von den beiden Interviewten aus alten Alternativmilieus stammen, heißt zum Beispiel nicht, dass sich in anderen Milieus nicht genauso viele Mitglieder dieser „Spezies“ tummeln.

Hier bedarf es unbedingt weiterer Forschung. Auch die Überlappungen zum Rechtspopulismus gilt es weiter zu erforschen, zumal der klassische Autoritarismus vom libertären nur überwölbt, aber mitnichten abgelöst wurde. Ob sich libertär-autoritäre Personen nicht doch einem Führer an den Hals werfen würden, der wie Ex-US-Präsident Trump ihre Vorstellung von Freiheit verkörpert, bleibt offen.

Auch die Frage, wie auf all das reagiert werden soll, können Amlinger und Nachtwey nur anreißen. Auf jeden Fall aber sei es geboten, die formale, vornehmlich „negative Freiheit“ durch eine substantielle, „positive Freiheit“ zu ergänzen, Menschen institutionell in die Lage zu versetzten, ihre Wahlmöglichkeiten auch ausschöpfen zu können. Gefordert ist eine „soziale Freiheit“, die ihre zahlreichen Voraussetzungen mitdenkt, im Anderen weniger eine Blockade als vielmehr ihre eigene Ermöglichung gewahrt.

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