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In Dreiergruppen versammeln sich Berliner Abiturienten im Juni 2020 zur Zeugnisübergabe auf einem Sportplatz.

© Kay Nietfeld/dpa

Turners Thesen: Weniger Abiturienten, mehr Vernunft

Die leicht rückläufige Abiturquote ist eine Chance, meint unser Kolumnist: auf ein Ende der Noteninflation und neue Potenziale für die Facharbeiterausbildung.

Der Anteil der Jugendlichen einer Altersgruppe, die das Abitur ablegen, geht leicht zurück. Das wird diejenigen grämen, die unablässig für einen höheren Anteil geworben haben und denen 50 Prozent nicht ausreichten – darunter die Vertreter von Bildung und Kompetenzen der OECD.

Die neue Tendenz zeigt, dass die Betroffenen offenbar vernünftiger sind als die Experten. Dabei sollte unbestritten sein, dass Jugendliche, die über die entsprechenden Voraussetzungen verfügen, die bestmöglichen Bildungsabschlüsse erwerben, unabhängig von der finanziellen und sozialen Situation, in der sie sich befinden. Aber genau so sollte gelten, dass es verfehlte Planwirtschaft ist, wenn eine bestimmte Prozentzahl an Abiturienten als Ziel vorgegeben wird.

[Lesen Sie auch unsere Analyse des Nationalen Bildungsberichts, der Ende Juni veröffentlicht wurde: Die Grenzen des deutschen Bildungssystems]

Welche verheerende Wirkung solche Signale auf das Schulwesen hat, erkennt man an der Noteninflation beim Abschluss. Die Anzahl der Einser-Abiturienten lässt die Glaubwürdigkeit der Notengebung und die Qualität der Inhaber der Zeugnisse fragwürdig erscheinen. Begonnen hat es mit den Zulassungsbeschränkungen im Fach Medizin. Aspiranten für das Fach wollte man den Zugang verwehren.

Ein Porträtfoto von George Turner.
Unser Kolumnist George Turner, Berliner Wissenschaftssenator a.D.

© Mike Wolff

Wenn man aber das durch Großzügigkeit bei der Notengebung erreichen wollte, musste das Niveau insgesamt angehoben werden, weil sonst solche, die nicht Medizin studieren wollten, ungerecht behandelt worden wären. Daraus ergab sich eine Spirale der ständig besseren Notengebung bis zu nicht mehr nachvollziehbaren Größenordnungen von Scharen von Absolventen mit dem Durchschnitt von 1,0 im Zeugnis.

Positive Folgen für den Arbeitsmarkt

Wenn nunmehr die Zahl der Abiturienten zurückgeht, kann das auch für den Arbeitsmarkt positive Folgen haben: Der beklagte Facharbeitermangel erklärte sich auch aus der Tatsache, dass es als unvermeidbare Einbahnstraße verstanden wurde, nach dem Abitur ein Studium aufzunehmen.

[Ein aktueller Appell von Klaus Hurrelmann und Dieter Dohmen als Gastbeitrag im Tagesspiegel: Ändert das Abitur - und zwar radikal!]

Wenn die Reaktion der Betroffenen derart ist, dass sie andere Möglichkeiten des Berufseinstiegs sehen, sollte das dazu führen, dass Verbände und Unternehmen entsprechenden Ausbildungsplätze attraktiv gestalten, damit das duale Ausbildungssystem keine Sackgasse für weitere Karrierechancen bedeutet.

[Wer mit dem Autor diskutieren möchte, kann ihm eine E-Mail senden: george.turner@t-online.de]

Diejenigen, die beklagt haben, dass es zu wenige Bewerber für Berufe in Industrie und Wirtschaft gäbe, sollten jetzt mithelfen, eben dort interessante und zukunftsorientierte Stellen zu schaffen, damit die rückläufigen Abiturientenzahlen sich als das erweisen, was sie sein können: die Erkenntnis weiterer Jahrgänge, dass es nicht nur den einen Königsweg über das Abitur gibt.

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