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Bizarr. Fast könnte man meinen, es handele sich bei den Seepferdchen (hier: Barbours Seepferd) um Unterwasser-Fabelwesen.

© Ralf Schneider

Evolution: Was Seepferdchen so einzigartig macht

Aufrechte Körperhaltung, fehlende Bauchflossen, männliche Schwangerschaft: Wie diese Eigenschaften entstanden sind, verrät nun das Genom von Seepferdchen.

Kopf und Nacken gleichen einem Pferd. Nur sitzt das Ganze auf einem aufrechten Leib, der nahtlos in einen Wurm übergeht, der sich um ein Seegras schlingt. Ein Seepferdchen ähnelt den Chimären aus der griechischen Mythologie – Mischwesen also, die zum Beispiel vorne wie ein Löwe, in der Mitte wie eine Ziege und hinten wie eine Schlange aussehen. Nur sind Seepferdchen viel kleiner und ganz und gar nicht furchterregend. Traditionelle Geschlechterrollen haben Seepferdchen schon vor langer Zeit über Bord geworfen, die Männchen sind von der Befruchtung der Eier bis zur Geburt für den Nachwuchs verantwortlich. Und vor allem sind Alte wie Junge keine Sagengestalten, sondern schwimmen quicklebendig in den Weltmeeren.

Wie ihre einzigartigen Eigenschaften entstanden sind, zeichnen nun Evolutionsforscher um Axel Meyer von der Universität Konstanz, Quiang Lin und Quiong Shi vom South China Sea Institute of Oceanology sowie Byrappa Venkatesh von der Technischen Universität Nanyang in Singapur im Fachblatt „Nature“ nach. Sie haben das Erbgut der Tigerschwanz-Seepferdchen Hippocampus comes entziffert und analysiert.

23 458 Gene haben sie im Seepferdchen-Erbgut gezählt. Der Mensch hat ähnlich viele Erbanlagen, obwohl das Genom der Zweibeiner mit 3270 Millionen Bausteinen fast fünfmal größer ist als die 695 Millionen Basenpaare bei den Seepferdchen. Wichtiger als solche Vergleiche sind allerdings andere Fragen: Wie sehen diese Gene aus, wie haben sie sich entwickelt, wie werden sie gesteuert? Und haben die Seepferdchen im Laufe der Evolution manche Gene verloren oder andere neu bekommen?

Der ruhige Lebensstil machte die Bauchflossen überflüssig

Vor allem eine Eigenschaft ist den Forschern aufgefallen: Das Erbgut der Seepferdchen verändert sich schneller als bei anderen Knochenfischen – seit der Zeit, als sich die Seepferdchen vor etwas mehr als hundert Millionen Jahren vom Rest der Barsch-Verwandtschaft trennten und einen eigenen Weg einschlugen. In der gleichen Spanne entwickelten sich zum Beispiel die Säugetiere zu so unterschiedlichen Gruppen wie Elefanten und Mäuse, Kängurus und Menschenaffen. Kurzum: Die Seepferdchen hatten genug Zeit, Neuerungen zu entwickeln und Überflüssiges loszuwerden.

Sie haben die Zeit dazu genutzt, ihren Lebensstil erheblich umzugestalten. Sie bewegen sich nicht flink durchs Wasser. „Seepferdchen sind sehr sesshaft“, sagt Axel Meyer. „Statt nach Beute zu jagen, warten sie darauf, dass ein Bissen vorbeikommt.“ Der ruhige Lebensstil machte die Bauchflossen überflüssig, die bei den geschickten Schwimmmanövern anderer Knochenfische die Feinsteuerung übernehmen. Ein Gen namens TBX-4, das bei der Entwicklung von Bauchflossen anscheinend eine wichtige Rolle spielt, fehlt den Seepferdchen.

Die Körperhaltung könnte Räuber irritieren

Sie setzen lieber auf gute Tarnung. Ein Versteck finden die Fische zum Beispiel im Dickicht von Seegraswiesen, in denen sie häufig leben. Mit dem Wurm-ähnlichen Ende können sich die Fische gut an den Stängeln des Seegrases festhalten. Zwischen diesen nach oben wachsenden Stängeln fällt ein herkömmlicher Fischkörper zudem viel eher auf als der aufrechte Körperbau eines Seepferdchens.

Für solche Veränderungen sind häufig Schalter im Erbgut zuständig, die Erbanlagen an- und ausstellen oder deren Aktivität verändern, sie also schneller oder langsamer laufen lassen. Fehlen im Erbgut eines menschlichen Embryos zum Beispiel Schalter für das SHOX-Gen, bleiben die Unterschenkel und Unterarme deutlich kürzer als bei anderen Menschen. Als Erwachsene leiden sie dann unter Zwergenwuchs, sie erreichen Körpergrößen von gerade 130 Zentimetern. Auch der veränderte Körperbau der Seepferdchen lässte sich gut mit den fehlenden Schaltern erklären.

„Vielleicht werden so ja auch Räuber durcheinandergebracht, deren Beute normalerweise ganz anders aussieht“, kommentiert Axel Meyer diese Eigenheiten. Wenn man dann noch die Schuppen auf der Haut durch wehrhafte Knochenplatten ersetzt, vergeht wohl den meisten Angreifern der Appetit auf die Seepferdchen.

Die Duplikation eines Gens sorgte für die männliche Schwangerschaft

Genau wie bei anderen Tieren – von Bartenwalen über Schildkröten bis zu den Vögeln – sind bei Seepferdchen bestimmte Gene stark verändert oder fehlen ganz. Sie werden von Molekularbiologen SCPP (Secretory Calcium-binding Phosphoprotein) genannt und beeinflussen, ob sich Zahnschmelz bilden kann. Prompt haben alle diese Tiere keine Zähne. Stattdessen sind beim Seepferdchen die Kiefer zu einer röhrenförmigen Schnauze mit sehr kleinem Maul verwachsen. Das lässt den Kopf nicht nur wie einen Pferdeschädel aussehen. Man kann damit auch hervorragend winzige Organismen aufsaugen, die in den Seegraswiesen im Wasser schweben.

Noch etwas ist den Forschern aufgefallen: Bei Knochenfischen ist eine Genfamilie namens C6AST wichtig für das Brutgewebe, in dem die befruchteten Eier sich zu kleinen Fischen entwickeln. Genau diese Erbanlagen sind bei den Seepferdchen doppelt vorhanden und in der Bruttasche der Männchen sehr aktiv. Sie werden damit zu perfekten Ammen. Die Weibchen können also ihre Eier in diese Bruttasche ablegen und den Rest, von der Befruchtung der Eier über die Schwangerschaft bis zur Geburt des Nachwuchses, den Vätern überlassen. Die Geschlechterrollen sind also im Vergleich mit vielen anderen Tieren komplett vertauscht.

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