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Eine Braillezeile zeigt den Bildschirminhalt am Computer in Punktschrift an. Das Bild zeigt, wie der Inhalt dann mit den Fingerkuppen ertastet wird.

© Foto: Klaus-Dietmar Gabbert/dpa-tmn

Blindenschrift am Computer: Warum die Digitalisierung für die Bildung Blinder ein Segen ist

Als fast ganz erblindete Wissenschaftlerin weiterforschen? Dank der Digitalisierung ist das möglich - doch vieles kann noch verbessert werden, schreibt unsere Gastautorin.

Das Kürzel „Bl“ im Schwerbeschädigtenausweis blinder Menschen stand noch nie für „blöd“. Bereits vor der Digitalisierung waren Blinde beruflich bestens qualifiziert. Das gilt für Geburtsblinde, Jung- und Späterblindete. Sie waren und sind außer Klavierstimmer auch Lehrer, kaufmännische Angestellte, Musiker, Juristen, Schriftsteller, Sozialpädagogen, Psychologen, Wissenschaftler etc.. Die analoge Welt des Wissens ist Blinden vertraut. Ganz einfach, weil unsere moderne Wissenskultur schrift- beziehungsweise zeichenbasiert ist.

Ich schreibe über Blinde und Sehschwache in modernen europäischen Schriftkulturen; andere Kulturen haben andere Bildungsformen. Das System der Punktschrift, das Louis Braille im 19. Jahrhundert erfunden hatte und das später weiterentwickelt worden ist, entspricht weitgehend dem Zeichensystem der Schwarzschrift. Die Deutsche Blindenbücherei in Leipzig führt neben Büchern in Brailleschrift seit Jahrzehnten Hörbücher. Das „Tagebuch der Anne Frank“ war in der DDR in den 1950er Jahren als erstes in Form besprochener Tonbänder erschienen, weil Anne Franks Vater Otto Frank, der kein Freund der Kommunisten gewesen ist, der Blindenbücherei die Genehmigung dazu erteilt hatte.    

Mit den Fingern lesen

Die sechs Augen eines Würfels bilden die Grundlage der Brailleschrift; das Computerbraille hat noch zwei weitere Punkte, unterscheidet sich aber sonst nur in Details von seinem analogen Bruder. Anzahl, Anordnung und Kombination der Punkte bezeichnen Buchstaben, Zahlen, Satz- und Sonderzeichen. Da diese Weise der Verschriftlichung raumgreifend ist, gibt es eine Kurzschrift, die Wörter und Silben reduziert wiedergibt. Für das Lesen entscheidend ist das Tastvermögen. Der Rest geschieht im Kopf.

Ein Porträtbild unserer Gastautorin, der Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Sylke Kirschnik.
Unsere Gastautorin, die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Sylke Kirschnik.

© Privat

Blinde schreiben entweder auf speziellen Punktschriftschreibmaschinen mit sechs Tasten oder auf handelsüblichen Computertastaturen, deren Tastenbelegung sie ebenso auswendig wissen wie die kombinierten Tastaturbefehle, die sie benötigen, um ohne Maus am Computer arbeiten zu können. Die Computerprogramme für Blinde verfügen über eine Sprachausgabe. Auf dem IPhone gibt es eine Brailleschrifteingabe, die manche Blinde nutzen, um eine E-Mail oder eine SMS zu schreiben. Ein spezielles Programm wandelt Braille in Schwarzschrift um und vice versa.         

 Braille 2.0: Lesen im Computerzeitalter

Im Computerzeitalter wurde das Lesen digitalisierter Texte mit Fingern am Schirm durch die Braillezeile möglich. Auf dieser Zeile, die Blinde meist unterhalb ihrer Computertastatur platziert haben, werden winzige Stifte nach oben gedrückt. Sie zeigen das Brailleschriftbild an, so dass es tastbar ist. Wichtig ist nur, dass die Dateien, egal ob Word oder PDF, vom Sender als Textdateien abgespeichert werden. Grafiken und Bilder erkennen die Computerprogramme für Blinde nicht.

Obwohl beide in der digitalen Welt als Quellcodes Schriftzeichen bilden, sind sie außer für Programmierer in Brailleschrift so wenig lesbar wie in Schwarzschrift. Das ist auf Internetseiten, die schlecht programmiert worden sind, insofern ein Problem, als die Grafiken, Bilder und Schaltflächen, die Sehende ohne weiteres erkennen können, für Blinde ein Geheimnis bleiben. Würden die Programmierer sie mit einem Wort benennen, wären sie barrierefrei. (Ein schöner Gruß von meinen blinden PC-Lehrern an die Programmierer.)

Das Internet ist für Blinde zugänglich wie eine Bibliothek oder ein Lexikon. Kennt man die Internetadresse, kann man die Seite öffnen und sie sich über bestimmte Navigationsbefehle erschließen. Hat man einen Suchbegriff, gibt man ihn wie jeder Sehende bei Google et al ein und navigiert sich dann durch die Suchergebnisse, um das eine oder andere anzuklicken. Wikipedia durchforsten Blinde wie Internetseiten. Blinde Studierende und Wissenschaftler ziehen Fachliteratur zu Rate, die sie entweder via Braille oder via Sprachausgabe der Computerprogramme konsultieren.

 Warum die Schrift für Bildung unverzichtbar ist

Als Theater- und Filmwissenschaftlerin kann ich seit meiner Erblindung vor zwei Jahren nicht mehr arbeiten. Als Literatur- und Kulturwissenschaftlerin aber durchaus. Die Bildwissenschaften sind ohne Sehvermögen undenkbar. Aber auch ohne Schrift.

Beinah ein Jahrzehnt lang habe ich in der universitären Lehre Studierende mit der Forschungsposition traktiert, dass wir ohne Schriftverständnis auch keine Bilder analysieren können. Diese Auffassung ist demnach keine Folge meiner Erblindung. Bilder deuten funktioniert über Sprache, Analyse jedoch nur über Schrift. Anders gesagt: Eine Literaturverfilmung oder ein Hörbuch können keine Buchlektüre ersetzen.

Auch die Digitalisierung kann Braille- und Schwarzschrift nur ergänzen. Hier sitzen Blinde und Sehende im gleichen Boot. Als fast ganz erblindete Wissenschaftlerin kann ich die Forschungsergebnisse meiner sehenden Kollegen, die sie mir als Textdateien mailen, problemlos an der Braillezeile lesen. Da die für meine Forschungen wichtigen Bibliotheken und Archive ihre Bestände zunehmend digitalisieren, sind sie für mich ohne Weiteres zugänglich. Noch muss ich Handschriftliches ausdrucken und stark vergrößert am Lesegerät lesen. Aber die digitale Handschriftenerkennung wird diesen Umweg bald erübrigen.         

Sylke Kirschnick ist promovierte Literatur- und Kulturwissenschaftlerin. Ihre Habilitationsschrift, an der sie gerade schreibt, hat Judenfeindschaft und Orientalismus zum Thema.

Sylke Kirschnick

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