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Eine Herde von dicht aneinander stehenden Schafen.

© Arkadiusz Wlodarczyk/fotografaw/stock.adobe

Wann ist es endlich soweit?: Der mühsame Weg zur Herdenimmunität

Jetzt wird geimpft, bis die Herdenimmunität erreicht ist. Doch wann das ist, hängt von vielen Faktoren ab.

Das große Impfen gegen Corona hat begonnen. Aber wann werden ausreichend viele Menschen geimpft sein, dass die Pandemie gestoppt wird? Die einfache Antwort: Wenn „Herdenimmunität“ erreicht ist.

Das Wort ist nicht nur scheußlich – wir Menschen sind ja schließlich keine Herde von Rindern oder Schafen – sondern auch noch missverständlich: Um die Schwelle der Herdenimmunität zu erreichen, muss durchaus nicht die gesamte „Herde“ immun sein. Sondern spätestens, wenn zwei Drittel der Bevölkerung immun gegen das Sars-CoV-2-Virus geworden sind, ist der Kampf gegen diesen Krankheitserreger gewonnen.

Diese theoretische zwei-Drittel-Schwelle für Corona-Herdenimmunität ergibt sich aus der spezifischen Ansteckungsfähigkeit des Corona-Virus in einer homogenen „Herde“: Am Beginn der Pandemie, als noch niemand immun war und das Virus sich noch ungehindert ausbreiten konnte, steckte jeder infizierte Mensch in Deutschland durchschnittlich drei andere Menschen an.

Sobald durch die Impfung jedoch zwei Drittel der Menschen immun gegen Corona geworden sind, trifft ein infizierter Mensch bei jeweils drei Begegnungen mit anderen Menschen zwei Mal auf Menschen, die bereits immun geworden sind. Zwei seiner ursprünglichen drei Ansteckungen unterbleiben also.

Ergebnis: Jeder infektiöse Mensch steckt dann durchschnittlich höchstens nur noch einen anderen Menschen an. Die Anzahl der täglichen Neuinfektionen steigt also nicht mehr. Sind also mindestens zwei Drittel der Bevölkerung durch Impfung immun geworden, mithin knapp 67 Prozent, ist die Pandemie auch ohne weitere Gegenmaßnahmen gestoppt. Zwar werden im restlichen, noch nicht immunen Drittel der Bevölkerung auch dann noch Infektionen stattfinden, aber immer weniger.

Die Schwelle der Herdenimmunität hängt grundsätzlich von der Ansteckungsfähigkeit des Virus ab. Die neue Mutation B.1.1.7 des Corona-Virus ist offenbar deutlich ansteckender.

Eine neue Virusvariante mit unklaren Folgen

Ihr R-Wert dürfte bei etwa 4 liegen, das heißt: Ohne weitere Gegenmaßnahmen steckt jeder Infizierte durchschnittlich vier weitere Menschen an. Bei dieser Virus-Variante müssen deshalb drei dieser vier Ansteckungen wegfallen, damit jeder Infizierte höchstens noch einen weiteren Infizierten hinterlässt und das exponentielle Anwachsen der Neuinfektionen aufhört. Mit anderen Worten: Für Herdenimmunität gegen die Virus-Mutation B.1.1.7 müssen mindestens 75 Prozent der Bevölkerung immun sein.

Außer durch eine Massenimpfung kann Herdenimmunität aber auch auf „natürliche“ Art erreicht werden: Wenn nichts dagegen unternommen wird, verbreiten sich die Infektionen in der Bevölkerung.

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Nach den zugehörigen Erkrankungen und Genesungen wird dadurch eine wachsende Zahl von Menschen immun gegen das Virus. Infizierte Menschen treffen also immer häufiger auf Menschen, die die Infektion bereits hinter sich haben und immun geworden sind. Je größer der „Erfolg“ des Virus also wird, desto weniger Opfer findet er noch. Spätestens, wenn vom Corona-Virus befallene Menschen in wenigstens zwei von drei Fällen immunen Menschen begegnen, die nicht mehr angesteckt werden können, sind die Tage der Corona-Pandemie gezählt.

Das führte zu einigen Missverständnissen: Am 16. September 2020 etwa behauptete der amerikanische Präsident Trump im Interview mit dem TV-Sender ABC, dass deshalb das Virus auch ohne Impfung verschwinden würde („is going away“) – wegen der „Herden-Mentalität“ („herd mentality“), meinte aber offensichtlich Herdenimmunität.

Der Moderator des Gesprächs George Stephanopoulos wies sofort auf den entscheidenden Nachteil dieser Strategie hin: Hohe Todeszahlen. Womöglich hatte er die brasilianische Stadt Manaus vor Augen, die schon im Frühjahr 2020 zum traurigen Paradebeispiel für natürliche Herdenimmunität geworden war. Ab März grassierte das Corona-Virus nahezu ungehindert in der Stadt. Die exponentiell hochschnellenden Infektionszahlen und die zugehörigen Erkrankungen brachten das Gesundheitssystem schnell an seine Grenzen.

Die erste Stadt der Erde mit Herdenimmunität

Viele Menschen starben allein schon deshalb, weil sie nicht mehr behandelt werden konnten. Im Mai gingen die Bilder der eiligst ausgehobenen Massengräber um die Welt. Doch ab Juni begannen die Infektionszahlen zu sinken. Nachdem brasilianische Virologen und Epidemiologen einige Tausend Blutproben von Blutspendern in Manaus untersucht hatten, zeigte sich: Innerhalb kurzer Zeit hatten sich wohl 66 Prozent der Bevölkerung mit dem Coronavirus infiziert. Offenbar war Manaus die erste Stadt der Erde mit Herdenimmunität geworden.

Um zu verhindern, dass vor dem Herdenimmunitäts-Sieg über das Virus die Überlastung oder gar der Zusammenbruch des Gesundheitssystems á la Manaus steht, muss man versuchen, während der Zeit bis zur Herdenimmunität die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus in der Bevölkerung auf ein erträgliches Maß zu verlangsamen.

Maskierte Menschen stehen um ein Massengrab in einem Friedhof in Manaus.
Improvisierter Friedhof. Massengräber in Manaus zeigen die traurige Realität der "natürlichen" Herdenimmunität.

© Michael Dantas/AFP

Dazu muss man aus dem Arsenal der Maßnahmen, die dem Virus die Ausbreitung erschweren – etwa Abstand halten, Maskentragen, Veranstaltungen verbieten – eine geeignete Kombination finden und anordnen.

Aber erst einige Wochen später kann man jeweils erkennen, ob sich die Infektionszahlen wie erwartet entwickeln. Von den europäischen Ländern hat offenbar nur Schweden sich auf die kitzlige Gratwanderung begeben, möglichst schnell, aber trotzdem kontrolliert Herdenimmunität zu erreichen. Dabei hat sich das Land darauf verlassen, dass die Menschen die empfohlenen Maßnahmen freiwillig und eigenverantwortlich befolgen.

Schwedens führender Epidemiologe Anders Tegnell war zuversichtlich: Schon im April 2020 meinte er in einem Interview mit der amerikanischen Zeitung USA Today, dass zumindest in Stockholm das Erreichen der Herdenimmunität nur noch eine Frage von wenigen Wochen sei.

Die Schattenseite der "natürlichen" Herdenimmunität

Doch die Hoffnung, dass sich im Laufe des Sommers weit überdurchschnittlich viele junge, gesunde und kontaktfreudige Menschen unerkannt infiziert haben könnten und immun geworden waren, erwies sich als trügerisch: Die zweite Welle der Corona-Pandemie im Herbst überrollte Schweden ähnlich wie alle anderen europäischen Länder.

Auch in Schweden fand das Corona-Virus offenbar nach wie vor viele Menschen vor, die noch nicht immun waren und angesteckt werden konnten. Von Herdenimmunität keine Spur. Dabei hatte Schweden bereits einen hohen Preis dafür bezahlt: Im vergangenen Jahr zählte das Land rund 9000 Corona-Tote. In Deutschland dagegen fielen dem Virus trotz achtfach größerer Bevölkerungszahl bis jetzt „nur“ etwa 33 000 Menschen zum Opfer, bezogen auf die Bevölkerung also weniger als halb so viel.

Doch mit welchen Infektionsraten man sich auf natürlichem Wege einer Corona-Herdenimmunität auch immer nähern will: Im Laufe der Zeit müssen dafür rund 70 Prozent der Bevölkerung eine Infektion erdulden, bis das Ziel erreicht ist.

[Mehr zum Thema: Beginn einer neuen Pandemie - die Gefahr der Virusmutante wird sträflich unterschätzt]

Entsprechend hoch wäre auch die Gesamtzahl der mehr oder weniger schweren Covid-19-Erkrankungen einschließlich möglicher Langzeitfolgen, ganz zu schweigen von der hohen Gesamtzahl der Todesfälle. Allerdings würden sich diese Erkrankungen und Todesfälle auf einen mehr oder weniger langen Zeitraum verteilen.

Beispiel Deutschland: Angenommen, wir würden täglich 20 000 Neuinfektionen in Kauf nehmen. Dann würde es rund acht Jahre dauern, bis Herdenimmunität erreicht wäre. Selbst, wenn man die Ausdauer für diese Strategie aufbringen würde, wäre sie trotzdem nicht praktikabel. Denn wie lange die Immunität eines Menschen nach Infektion und überstandener Krankheit anhält, ist unbekannt - jedenfalls kaum länger als ein, zwei Jahre, bei manchen vielleicht nur Wochen.

Es ist also keineswegs sicher, dass sich ohne Impfung überhaupt eine Herdenimmunität erreichen lässt.

Israel, Jerusalem. Eine Frau erhält eine Impfung gegen das Coronavirus von einem medizinischen Mitarbeiter in einem Impfzentrum.
Vorreiter in der Krise. Innerhalb von zwei Wochen nach dem Beginn einer Impfkampagne hat Israel schon eine Million seiner Bürger gegen das Coronavirus geimpft - mehr als 10 Prozent der Bevölkerung.

© Ilia Yefimovich/dpa

Die Menschen schützen, nicht ausliefern

Nach heftigen Diskussionen am Beginn der Pandemie sind mittlerweile nahezu alle Experten zu der einhelligen Überzeugung gelangt: Herdenimmunität auf natürlichem Weg anzustreben, indem man dem Virus mehr oder weniger freien Lauf lässt, ist keine verantwortungsvolle Strategie.

Der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation WHO Tedros Ghebreyesus lehnt es sogar rundweg ab, mit dieser Kapitulation vor dem Virus auch nur zu liebäugeln: „Herdenimmunität wird nicht dadurch erreicht, dass wir Menschen dem Virus ausliefern, sondern dadurch, dass wir die Menschen vor ihm schützen.“

Bis vor kurzem war dieser Schutz vor dem Virus rein defensiv: Ansteckungen möglichst vermeiden, sowie erfolgte Ansteckungen erkennen und die daraus folgenden Infektionsketten unterbrechen. Mit den neuen Impfstoffen können wir nun jedoch offensiv aufbrechen auf den einzigen ethisch vertretbaren und ökonomisch vernünftigen Weg Richtung Herdenimmunität. Und wir sollten ihn so schnell wie möglich gehen.

[Mehr zum Thema: Dann halt Party im GroßraumbüroDie Lockdown-Verlängerung ist hart – aber gefährlich inkonsequent]

Denn das Virus könnte uns jederzeit mit neuen Mutationen überraschen, gegen die andere Impfstoffe entwickelt werden müssten. Noch steht nicht fest, wann wir das Ziel erreicht haben werden. Die Schwelle zur Herdenimmunität ist keine statische Größe. Sie hängt unter anderem davon ab, wie schnell das Corona-Virus in unterschiedlichen Altersgruppen und Bevölkerungsschichten von Menschenlunge zu Menschenlunge gelangen kann.

In Städten zum Beispiel mit häufigen und engen Begegnungen von Menschen hat Corona bessere Ausbreitungschancen als auf dem flachen Land; entsprechend mehr Stadtbewohner müssen immun werden, um die Seuche zu beenden. Wie viel Menschen geimpft werden müssen, hängt auch von der Wirksamkeit der Impfstoffe ab.

Vieles bleibt offen

Werden zum Beispiel nur 90 Prozent der Menschen durch die Impfung immun, müssen entsprechend mehr Menschen geimpft werden, um die Schwellenzahl der Herdenimmunität zu erreichen. Dasselbe gilt, wenn das Virus durch Mutation, wie in zwei Fällen bereits geschehen, seine Ansteckungsfähigkeit erhöht hat. Unbekannt ist bis jetzt auch, wie lange die Immunität eines geimpften Menschen anhält – vorausgesetzt, dass die Impfung überhaupt immunisiert.

Denn möglich ist auch, dass die Impfung nur die Covid-19-Erkrankung eines Infizierten verhindert, nicht aber die Ansteckung. Dann würden Geimpfte gesund bleiben, könnten aber andere Menschen anstecken. Ob dem so ist, ist offen. Und damit auch, wie schnell und ob wir eine Herdenimmunität erreichen. Die sollte aber ohnehin besser „Herdenschutz“ genannt werden – als dezenter Hinweis darauf, dass auch diejenigen davon profitieren, die sich nicht impfen lassen wollten.

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